Als Lothar übers «Murtenholz» zog
Autor: Urs Haenni
Lurtigen ist auf allen Seiten von Wald umgeben. Als am Weihnachtstag 1999 die Baumwipfel im starken Wind hin und her wogten, hatte Förster Heinz Bucher in seinem Haus am Waldrand bereits ein ungutes Gefühl. Am nächsten Morgen, dem 26. Dezember, war es Bucher im Bauch nicht mehr wohl. Der Orkanwind fegte Gegenstände durch die Luft, der Förster traute sich kaum mehr aus dem Haus. Die Windböen begannen zu heulen und zu pfeifen, und im nahen Murtenholz krachte es. Die Baumstämme knickten wie Zündhölzer.
Als das unheimliche Schauspiel zu Ende war, schaute sich Bucher um und empfand Schock und Trauer. Waldstücke, welche über Jahrzehnte gehegt und gepflegt worden waren, wurden innert Minuten vollständig zerstört. Die Strassen von und nach Lurtigen waren allesamt durch umgestürzte Bäume blockiert. Heinz Bucher nahm die Motorsäge und half, die Strassen wieder frei zu machen.
Mit Glück keine Todesopfer
Es waren für lange Zeit die einzigen zwei Stunden, während denen der heutige Betriebsleiter des Forstbetriebs Region Murtenbiet eigenhändig Lothar-Holz räumte. Auf ihn wartete eine ungleich grössere Aufgabe. Er musste eine Grobübersicht über die immensen Schäden in seinem Revier gewinnen. Im Murtenholz erstreckten sich die Schäden über 220 Hektaren, insgesamt lagen rund 65 000 Kubikmeter Holz am Boden.
«Ich weiss nicht mehr, wie wir es bewältigten», erinnert sich Bucher. «Wir hatten keine Ahnung, was alles auf uns zukommen würde. Aber punkto Arbeitsstunden und psychischer Belastung war es enorm.» Es galt zu koordinieren, Unternehmen, die teilweise mit grossen Maschinen aus dem Ausland kamen, auf Platz zu holen und dazu die Arbeiten von Forstequipen, Waldarbeitern, Militär, Feuerwehr und Zivilschutz zu planen. Zudem gab es einen kantonalen Krisenstab, der anfangs fast täglich neue Informationen von Bucher wollte.
Ein wichtiges Kriterium war für den Förster und sein Team die Sicherheit. Schon in der zweiten Woche nach dem Sturm fand eine Ausbildungssequenz zum Thema statt. Dennoch geschah in Salvenach ein schwerer Unfall; ein Waldarbeiter wurde eingeklemmt, konnte aber gerettet werden.
Auch sonst hatte man viel Glück. Der Hüttenwart der Murtenholzhütte befand sich bei Sturmbeginn im Wald, konnte aber noch rechtzeitig an den nahen Waldrand fliehen. Und eine Frau aus Lurtigen wurde beobachtet, wie sie im Schockzustand über und unter umgestürzte Bäume hinweg aus dem Wald rannte.
Windwirbel von überall und in alle Richtungen
Nach dem Lothar-Sturm wurde eine Studie über die Strömungen des Orkans erstellt. Bucher hat diese Studie zu Gesicht bekommen und erkannt: «Eine Systematik gab es nicht. Fast aus allen Windrichtungen gab es Fallholz. Es gab viele örtliche Wirbel und Fallwinde.»
Vor Lothar hatte das Murtenholz mit rund 65 Prozent einen hohen Anteil an Fichten mit ihren flachen Wurzeln. «Fichten sind am lukrativsten», so Bucher, «es ist der Brotbaum des Waldbesitzers». Heute machen die Fichten nur noch 25 Prozent des Murtenholzes aus. Man hat Gegensteuer mit mehr Laubholz gegeben. Nun sei der Wald durchmischter, stabiler und widerstandsfähiger, erklärt Bucher.
Gewonnen hat durch den Sturm die Ökologie: «Es gibt schon einen Nutzen: Durch das viele Licht ist die Artenvielfalt an Pflanzen und Tierchen grösser geworden. Es hat viel mehr Pilze, Insekten, Käfer Wildschweine, Rehe.»
Wirtschaftliche Katastrophe
Revierförster Bucher hält aber fest: «Wirtschaftlich war Lothar eine unwahrscheinliche Katastrophe.» Durch den Sturm sei im Murtenholz die 14- bis 15-fache Jahresnutzung liegen geblieben. Die Hiebsätze seien seither gesunken, und noch heute müssten bei 70 Prozent des Holzschlags im Murtenholz Lothar-Reste bereinigt werden.
Das Lothar-Holz aus dem Murtenholz wurde hauptsächlich nach Österreich verfrachtet. Aber sogar Chinesen seien aufgetaucht und hätten sich interessiert gezeigt. Die Holzpreise sind dabei gefallen und haben sich nie mehr ganz erholt. Unmittelbar nach Lothar hätten Waldbesitzer durch die grossen Mengen zwar noch Geld verdient, so Bucher, aber im Forst müsse man langfristig denken. Noch zehn Jahre werde man an den Lothar-Resten arbeiten, noch zwanzig bis dreissig Jahre werde es dauern, bis das Jungholz wieder kostendeckend genutzt werden kann.
Zwar pflichtet Heinz Bucher bei, dass weder Gemeinden finanziell ins Schlamassel geraten sind, noch private Waldbesitzer Konkurs gingen. Doch wo früher ein Wald dem Besitzer jedes Jahr etwas Ertrag abwarf, da müsse man wie im Murtenholz vielleicht 30 bis 50 Jahre warten, bis es wieder so weit ist, meint Bucher: «Und das in einer Wirtschaft, die so stark auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet ist.»