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Befreit vom Ballast der Erinnerungen

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Das ist ein bezahlter Beitrag mit kommerziellem Charakter. Text und Bild wurden von der Firma Muster AG aus Musterwil zur Verfügung gestellt oder im Auftrag der Muster AG erstellt.

Pauls Gedächtnis ist sehr fadenscheinig und unzuverlässig geworden. Namen sind ihm entfallen, seine Lebensgeschichte hat Lücken. Und manchmal weiss er auch nicht mehr, was sich gehört. Seine Umgebung behandelt ihn wie einen Kranken, sie reagiert mit Mitleid und Ungeduld, zuweilen auch mit amüsierter Verwunderung. Paul selbst dagegen empfindet seinen Zustand als durchaus angenehm: Befreit vom Ballast der Erinnerungen ist er offen für das, was der lebendige Augenblick anbietet. Mit unverstellter Freude kann er staunen über die kleinen Seltsamkeiten des Alltags, die Kunst – und nicht zuletzt auch die Liebe.

Rätseln über Ursachen

«Mein Gedächtnis macht Kapriolen», pflegt Paul, bislang ein erfolgreicher Journalist, zu sagen. Er wisse nicht, ob er besser im Erinnern oder im Vergessen sei. Zwar seien die Erinnerungen nicht erloschen, «sondern bloss ein wenig defekt».

Weder Paul, seine Familie noch die Ärzte wissen, warum Pauls Gedächtnis plötzlich solche Lücken aufweist. Es gibt keinerlei Hinweise auf einen möglichen Unfall oder eine mögliche Krankheit. Irgendetwas muss passiert sein, es herrscht Ratlosigkeit. Es gab eine Zeit, da konnte er nur noch liegen, er war nicht einmal mehr imstande, zu sitzen, sich aufzurichten oder seinen Körper durchzustrecken.

Freude an Kleinigkeiten

Dank konsequentem Training ist Paul nun im Begriff, an sich natürliche Fähigkeiten wieder zurückzuerobern: das Stehen und das Gehen, das Greifen und das Schauen. Er wird dabei liebevoll von seiner Frau Marion unterstützt, die ihn andererseits auch enttäuscht, indem sie ihn betrügt. Doch diese üble Sache beschäftigt ihn nicht lange, da er auch das bald vergessen hat.

Kommt hinzu, dass auch Paul noch in der Lage ist, sich mit einer anderen Frau zu treffen. Zunehmend gelingt es ihm, sich an dem zu erfreuen, was ihm das Leben bietet, an «Kleinigkeiten», die er bis anhin schlicht nicht wahrgenommen hat, beispielsweise an den Bildern im Kunstmuseum, die sich mit den Bildern in seinem Kopf vermischen. Paul spürt, dass «das Vergessen Tag und Nacht am Werk ist». Er kämpft dagegen an und lässt sich gleichzeitig voller Lust darauf ein. Bei seinen Spaziergängen durch die Stadt entdeckt Paul Menschen, die ihn faszinieren und ihm einzigartig erscheinen. Er sieht die Welt mit andern Augen und sammelt auf diese Weise neue Erinnerungen für sein jetziges Leben.

Dieses kleine, feine Buch könnte auch eine tröstliche Botschaft für diejenigen Menschen enthalten, die zwar Probleme mit dem Gedächtnis haben, jedoch nicht oder noch nicht an schwerer Demenz erkrankt sind. Gemeint ist die Freiheit, sich nicht mehr erinnern zu müssen.

Mit «Nicht schwindelfrei» ist dem Autor ein eindrücklicher, empfindsamer und berührender Roman gelungen, der überdies mit einem äusserst gepflegten, ja mitunter gar poetischen Schreibstil zu glänzen vermag.

Jürg Schubiger, Jahrgang 1936, lebt als Schriftsteller in Zürich. Er hat Germanistik, Psychologie und Philosophie studiert. Seine Bücher für Kinder und Erwachsene wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis.

Jürg Schubiger:«Nicht schwindelfrei», Roman, Innsbruck, Haymon, 2014.

Aldo Fasel ist Leiter der Volksbibliothek Plaffeien-Oberschrot-Zumholz.

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