Als erste präsentieren die Grünen in Zürich und Genf ihre Beschwerden gegen die Abstimmung über das Frauenrentenalter 65. Sie reagieren damit auf das Zahlenchaos im Bundesamt für Sozialversicherungen. Auch die SP Frauen reichten am Freitag eine Beschwerde ein.
Seit Dienstag haben Rechtsanwältinnen und Politikerinnen unter Hochdruck daran gearbeitet, jetzt liegen die 35 Seiten umfassenden Abstimmungsbeschwerden der Grünen dieser Zeitung exklusiv vor. In Genf wird Parteipräsidentin Lisa Mazzone persönlich die Beschwerde einreichen, zusammen mit einer 54-jährigen Frau. In Zürich ist Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber Beschwerdeführerin. Auch hier ist eine 60-jährige Frau «aus der Zivilbevölkerung» an der Beschwerde beteiligt, wie die Grünen festhalten.
Die Beschwerdeführerinnen reagieren auf den Zahlensalat zu den AHV-Prognosen des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Am Dienstag hat dieses bekannt gegeben, dass seine Berechnungen über den Zustand der AHV für die kommenden Jahre um bis zu 4 Milliarden pro Jahr abweichen – und die AHV deutlich besser dasteht als bisher dargestellt.
Bereits am Dienstag haben Frauen aus dem linken politischen Lager erklärt, die Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre vom September 2022 müsse für ungültig erklärt werden. Dies, weil das Volk damals auf der Basis falscher Berechnungen entschieden und das Rentenalter aus Sorge um die AHV erhöht habe. Die Abstimmung ging äusserst knapp aus, mit lediglich 50,5 Prozent Ja-Stimmen.
Nach Bekanntwerden des Prognosefehlers hatten Parteien, Organisationen sowie jegliche Stimmberechtigten drei Tage Zeit, um die Beschwerden einzureichen. Heute Freitag läuft die Frist ab. Im Laufe des Nachmittags veröffentlichten auch die SP-Frauen ihre Beschwerde.
Dass bei den Grünen nebst den zwei prominenten Politikerinnen Mazzone und Prelicz-Huber auch zwei Frauen zwischen 54 und 60 beteiligt sind, ist kein Zufall. Diese seien von der Erhöhung des Rentenalters «besonders betroffen», heisst es in der Beschwerde: Sie gehören zu den ersten Jahrgängen von Frauen, die nach einer stufenweisen Erhöhung des Rentenalters volle 65 Jahre arbeiten müssten. Sollte das Bundesgericht aber die Abstimmung von 2022 annullieren, würden sie mit 64 pensioniert.
Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone sagt auf Anfrage, sie hoffe, dass die Bundesrichterinnen und Bundesrichter «zugunsten einer funktionierenden Demokratie» entscheiden werden. Hier gehe es um Fragen, wie Meinungen gebildet werden, welche Informationen der Bevölkerung zur Verfügung stehen und ob diese stimmen. Dabei seien gravierende Fehler passiert, die das Vertrauen in die Demokratie untergraben könnten. Mazzone macht kein Hehl daraus, dass es auch darum gehe, «den Frauen dieses Jahr wieder zurückzugeben, die mit grosser Mehrheit Nein zu Rentenalter 65 sagten und noch immer einen Drittel tiefere Renten als die Männer aufweisen.»
Zahlen spielten wichtige Rolle im Abstimmungskampf
Über mehrere Seiten gehen die Beschwerdeführerinnen auf die Bedeutung der zu pessimistischen Prognosen des BSV im damaligen Abstimmungskampf ein. Sie zitieren aus den offiziellen Dokumenten des Bundesrats, der verschiedentlich mit den Zahlen des BSV argumentierte: «Sie (die AHV) muss dringend reformiert werden. AHV 21 (die Erhöhung des Frauenrentenalters) wird es ermöglichen, ihre Finanzen für etwa zehn Jahre zu stabilisieren und die Renten auf ihrem derzeitigen Niveau sichern», hiess es etwa in der Botschaft.
In den Beschwerden wird weiter aufgezeigt, wie die Prognosen des BSV in die Argumentation der Parteien einflossen. So schrieb die SVP: «Menschen, die ihr Leben lang Beiträge gezahlt haben, haben ein Recht darauf, dass ihre Rente gesichert ist. Dies ist ohne eine Reform der AHV nicht möglich. Ohne Reform wird die AHV bis 2030 eine Finanzierungslücke von bis zu 26 Mrd. Franken aufweisen.» Auch die FDP warnte, die Finanzierung der Renten sei in Gefahr. «Somit ist eine Harmonisierung des Rentenalters auf 65 Jahre unumgänglich unvermeidlich.»
Ähnlich tönte es auch in den Medien. In den Beschwerden wird aus Radiosendungen, Zeitungen und Fernsehbeiträgen zitiert, die sich auf die Zahlen des BSV berufen: «Die AHV steht am Rande des Abgrunds», konstatierte etwa das Magazin «Bilan». Ja, selbst BSV-Direktor Stéphane Rossini – er ist noch immer im Amt – wird in der Beschwerde zitiert. In der Abstimmungsarena des Schweizer Fernsehens vom 16. September 2022 wurde eine Aussage Rossinis über die Zahlen des BSV eingeblendet: «Das ist eine rigorose und systematische Arbeit, die nicht auf eine Abstimmung hin gebastelt wird», wehrte dieser sich gegen Kritik.
Nach der Entdeckung des Prognosefehlers von bis zu 4 Milliarden zeigte sich Rossini diese Woche selbstkritischer. Darauf wird in den Beschwerden genüsslich hingewiesen: Finanzprojektionen seien eine extrem schwierige Aufgabe, sagte Rossini nun, «es besteht immer das Risiko von Fehlern». Am Freitag bestätigte das BSV auf Radio SRF, die Zahlen im Abstimmungskampf 2020 hätten auf den fehlerhaften Berechnungsformeln beruht.
Nach ausführlichen rechtlichen Erörterungen, etwa über die Pflicht des Staates, korrekt zu informieren, kommen die Beschwerdeführerinnen zum Schluss, die mit der Beschwerde angezeigten Unregelmässigkeiten seien gravierend: Es sei «wahrscheinlich, dass dieser schwerwiegende Fehler das Abstimmungsergebnis beeinflusst hat». Sie verweisen noch einmal auf das extrem knappe Resultat zum Frauenrentenalter und fordern, angesichts der festgestellten Unregelmässigkeiten sei die Abstimmung zu annullieren.
Die beiden Beschwerden der vier Frauen richten sich auch, aber nur untergeordnet gegen die Abstimmung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV. Diese war mit der Erhöhung des Frauenrentenalters gekoppelt und wurde dem Volk am gleichen Tag vorgelegt. «Es handelt sich um eine Vorsichtsmassnahme», sagt dazu Rechtsanwältin Léna Nussbaumer-Laghzaoui, die mit Rechtsanwältin Camilla Jacquemoud die Beschwerden ausgearbeitet hat. Die Beschwerde richte sich hauptsächlich gegen die Vorlage zum Frauenrentenalter.
Die Juristinnen sind grundsätzlich der Meinung, dass trotz der damaligen Verknüpfung bloss die Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters aufgehoben werden könne. Indem die Beschwerden beide Vorlagen beträfen, überlasse man diesen Entscheid aber dem Bundesgericht.
Kommentar (0)
Schreiben Sie einen Kommentar. Stornieren.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Die Pflichtfelder sind mit * markiert.