Leitartikel
Die Bilder sind um die Welt gegangen: Mit Flüchtlingen überfüllte Boote landen nach gefährlichen Überfahrten auf der Insel Lampedusa, der italienische Staat ist überfordert, erklärt den humanitären Ausnahmezustand.
Auch in der Schweiz spielen sich unter Notsuchenden aus anderen Ländern Dramen ab. Gegen 30 000 Personen haben im vergangenen Jahr in der Schweiz Asyl beantragt, die meisten von ihnen warten jetzt noch auf einen Bescheid. Sie warten ein, zwei oder gar drei Jahre. Endlose Monate zwischen Hoffen und Bangen. Nachdem die Hilfesuchenden eine Notsituation in ihrem Heimatland und eine oft lebensbedrohende Flucht überstanden haben, werden sie durch schweizerische Verfahrenswege noch einmal traumatisiert.
Befürworter wie Gegner der am 9. Juni zur Abstimmung kommenden Asylgesetzrevision sind sich einig: Die schier unendlich langen Asylverfahren in der Schweiz sind eines Rechtsstaates unwürdig. Abhilfe ist dringend nötig. Doch ist die jetzt dem Volk vorgelegte Asylgesetzrevision wirklich das richtige Instrument dazu? Immerhin hat das Asylgesetz zuvor bereits 17 andere Revisionen erfahren, ohne dass sich die Verfahren wirklich verbessert haben.
Tatsächlich setzt die neue Version am richtigen Ort an. Sie will den herrschenden Föderalismus aufbrechen und dem Bund mehr Kompetenzen geben. Es soll nicht mehr sein, dass Gruppen von Asylsuchenden zwischen Kantonen und zwischen Gemeinden wie eine heisse Kartoffel hin- und hergereicht werden. Wenn bisher irgendwo auf dem Lande in einer Zivilschutzanlage für drei Monate 40 Asylbewerber aufgenommen werden mussten, so ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Es mussten Informationsabende organisiert werden mit Vertretern des Bundesamtes für Migration, der kantonalen Behörden und der Polizei. Es brauchte ein multikulturelles Begegnungsfest oder einen Tag der offenen Tür, um Ängste zu mindern.
Nun will der Bund vier oder fünf Bundeszentren einrichten können, für die er keine Bewilligung braucht und die er drei Jahre betreiben kann. 400 oder 500 Asylsuchende sollen in diesen Zentren Platz finden, und das ganze Betreuungsangebot soll fix zum Angebot gehören: rechtlicher Beistand, Übersetzer, soziale Betreuung, medizinische Versorgung, Integrationsprogramme. Asylbewerber, die sich nicht an die Regeln des Zusammenlebens halten, landen in einem speziellen Zentrum für Renitente.
Die Vorteile einer solchen Lösung sind offensichtlich: Im Asylwesen hat der Bund das Sagen, es herrscht eine einheitliche Praxis im ganzen Land, zwischen den Beteiligten sind die Wege kurz, man spricht miteinander. Mit dieser Lösung orientiert sich der Bund an Holland, einem Land, das punkto Grösse, Bevölkerung und humanitärer Tradition durchaus mit der Schweiz vergleichbar ist. Das holländische Modell ist offenbar erfolgreich angelaufen. Verfahren sind dort beschleunigt und vereinheitlicht.
Heisst dies, dass das neue Gesetz, das in Holland bereits seit acht Monaten in Kraft ist, auch in der Schweiz die gewünschten Erfolge zeigen würde? Es kommt auf die Umsetzung an. Das revidierte Asylgesetz gibt den Rahmen vor; wie es umgesetzt wird, hängt von den ausführenden Organen ab. Werden all jene Parteien, die an einem Asylverfahren beteiligt sind, wirklich am selben Strick ziehen? Gehen die Gerichte, die Rekurse behandeln, wirklich in nützlicher Frist auf die Dossiers ein? Können bei Zentren mit 500 Asylbewerbern menschenwürdige Zustände garantiert werden?
Wer dies anzweifelt, findet im neuen Gesetz mehrere Punkte, die er als Kollateralschaden an den Hilfesuchenden ansieht. So sind Asylgesuche auf Schweizer Botschaften nicht mehr möglich. Wer in der Schweiz Asyl beantragt, muss auf irgendeinem Weg in die Schweiz gelangen. Dieser Weg führt fast zwangsläufig über die Illegalität und oft über skrupellose Schlepperorganisationen. Auch gilt Wehrdienstverweigerung nicht mehr als Asylgrund. Wollen wir wirklich, dass Menschen für diktatorische oder kriminelle Regimes zur Waffe greifen müssen?
Es ist gewiss nicht alles perfekt am neuen Gesetz. Doch wenn das übergeordnete Ziel einer Verfahrensdauer von unter 100 Tagen erreicht werden soll, muss man Vertrauen entgegenbringen. Vertrauen, dass das Departement der SP-Bundesrätin Sommaruga die Menschenwürde nicht vergisst. Vertrauen, dass die Verschärfung beim Botschaftsgesuch und den Dienstverweigerern durch die Erteilung von humanitären Visa abgefedert wird. Vertrauen, dass nach einer Testphase die richtigen Schlüsse aus dem notwendigen Gesetz gezogen werden. Dieses Vertrauen kann das Stimmvolk gewissen Bedenken zum Trotz mit einem kräftigen Ja an der Urne ausdrücken.