Renata Jungo-Brüngger, Leiterin des Ressorts Integrität und Recht bei Daimler, hat sich mit den FN über Integrität, den Abgasskandal und Höhenangst unterhalten.
Renata Jungo-Brüngger, seit diesem Jahr sind Sie im Vorstand von Daimler für das Ressort Integrität und Recht zuständig. Wie hat sich Ihr Leben seither verändert?
Ich bin 2011 als Leiterin der Rechtsabteilung zu Daimler gekommen. Heute ist mein Tätigkeitsfeld um einiges grösser, und ich bin innerhalb des Unternehmens zusätzlich für Regelkonformität – zu Neudeutsch Compliance –, den Datenschutz, das Integritätsmanagement und für Nachhaltigkeit zuständig. Dieser bunte Strauss an Themen bringt einerseits eine grössere Verantwortung und andererseits eine spannendere Tätigkeit mit sich.
Während es sich beim Element Recht um einen relativ definierten Begriff handelt, bietet jener der Integrität grossen Interpretationsspielraum. Was versteht Daimler darunter?
Daimler entschied sich 2011, als das Vorstandsressort geschaffen wurde, ganz bewusst für die Bezeichnung «Integrität und Recht». Die Idee dabei war es, einen gemeinsamen Wertemassstab für das ganze Unternehmen zu finden. Es gibt immer wieder Dilemma-Situationen, in denen sich Mitarbeiter entscheiden müssen. In diesen Situationen versucht der Konzern, verantwortungsvolles Handeln und Denken zu fördern. Jeder Mensch funktioniert nach einem inneren Kompass und weiss meist ziemlich genau, was richtig und was falsch ist. Die Eigenverantwortung unserer Mitarbeiter und Führungskräfte zu fördern ist uns ein wichtiges Anliegen.
Wie wirkt sich dies auf die Herausforderungen in Ihrem Ressort aus?
Integritätsfragen stellen sich in allen Bereichen eines Unternehmens, und sie verändern sich von Tag zu Tag wie auch das Business. Was wir versuchen, ist, die Kollegen in ihrem Berufsalltag zu unterstützen. Hierfür gibt es etwa ein eigenes Integrity-Management-Team, das aus kompetenten Mitarbeitern besteht. Sie wissen, welche Fragestellungen die jeweiligen Bereiche beschäftigen, und sind darum bemüht, die Diskussionen in diesen Themen aufrechtzuerhalten.
In der Schweizer Boulevardpresse wurden Sie deshalb auch schon als «oberste Polizistin» im Betrieb bezeichnet. Trifft das zu?
Nein, das sehe ich nicht so. Integrität lässt sich nicht delegieren. Ein gemeinsamer und für alle Mitarbeiter verbindlicher Wertemassstab kann nur gefunden werden, wenn alle Bereiche diesen auch mittragen. Natürlich gehören regelmässige Kontrollen über die Einhaltung der intern vereinbarten Spielregeln auch zu meiner Arbeit. Ich unterstütze das Unternehmen darin, dass alle Prozesse korrekt ablaufen. Ein international tätiges Unternehmen kann heute ohne professionelle Compliance- und Rechtsabteilung nicht mehr arbeiten.
Dennoch haben sich Vorstandsposten dieser Art innerhalb von Europa noch nicht wirklich durchgesetzt.
Es gibt zwar Ausnahmen, wo der Leiter der Rechtsabteilung ebenfalls in der Konzernleitung vertreten ist. Aber das hat schon Seltenheitswert. Ich war fast zehn Jahre für einen amerikanischen Konzern tätig, von daher kenne ich auch die andere Seite: In den USA ist es absolut üblich, dass der Chefjurist in der Unternehmensleitung einen Sitz hat.
Warum ist das bei vielen europäischen Firmen anders?
Die Amerikaner haben ein anderes Rechtssystem als die Europäer; zwischen Business und Rechtsberatung gibt es viel weniger Berührungsängste. In Europa herrscht nach wie vor die Tradition mit dem klassischen Juristen vor, der das Unternehmen zwar berät, sich aus der Geschäftsleitung aber heraushält. Die Rolle der Rechtsabteilung hat sich in den letzten zehn Jahren zwar massiv geändert, eine Verzahnung hat aber in vielen Unternehmen noch nicht stattgefunden. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis dies geschieht. Die gestiegenen Anforderungen an grosse Konzerne und die sich immer schneller wandelnden Regeln und Gesetze erfordern es, dass sich Unternehmen professionell mit verantwortungsvollem Handeln und Nachhaltigkeit beschäftigen.
Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich derzeit am meisten?
Im Moment erfordern viele spannende Themen unsere Aufmerksamkeit–etwa das autonome Fahren. Da befassen wir uns derzeit mit dem rechtlichen Rahmen und arbeiten eng mit Ingenieuren, aber auch mit Verbänden und Regierungskommissionen zusammen, mit denen wir uns über Haftungsfragen austauschen. Aber auch Fragen zur Digitalisierung im Carsharing-Angebot oder zum Datenschutz im Zusammenhang mit dem vernetzten Fahren beschäftigen uns sehr.
Wo sich das Autofahren am meisten entwickelt, sind auch Sie am stärksten gefordert.
Absolut. Wir begleiten die Entwicklung von Anfang an. Das ist wichtig. Je eher wir in diesen Prozess mit einbezogen werden, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die fertige Lösung auf rechtliche Bedenken stösst. In der dynamischen Automobilbranche braucht es eine gute Zusammenarbeit, damit man nirgends hinterherhinkt.
Wie kann gewährleistet werden, dass sich alle an die externen und internen Spielregeln halten, wenn die Verlockung des Geldes doch immer im Raum steht?
Daimler ist ein sehr grosses Unternehmen mit über 280 000 Mitarbeitern weltweit, da lässt sich ein Fehlverhalten nicht ganz ausschliessen. Etwas kann immer passieren. Deshalb arbeiten wir dauernd an Fragen der Integrität; dieser Prozess wird nie zu einem Ende kommen. Was zudem zu beachten ist: Auch die regulatorische Welt verändert sich. Was vor zehn Jahren noch absolut gang und gäbe war, ist heute vielleicht nicht mehr in Ordnung. Wichtig ist sicher, dass die Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn dann doch etwas passiert, klären wir das auf und sanktionieren das Fehlverhalten entsprechend. Auch das ist unsere Aufgabe.
Im September hat eine Mitteilung der US-Umweltbehörde, Konkurrent Volkswagen habe Motoren manipuliert, den Abgasskandal ins Rollen gebracht. Welche Rolle spielt dieser in Ihrem Alltag?
Momentan steht die Automobilbranche unter Generalverdacht. Wir kämpfen da an verschiedenen Fronten. Auch Daimler haben Klassenklagen aus den USA erreicht. Diese sehen wir zwar als unbegründet an, es gilt sie aber trotzdem professionell anzugehen. Ausserdem wurden wir vom US-Justizministerium beauftragt, eine interne Untersuchung über den Zertifizierungsprozess unserer Motoren durchzuführen. Wir sind da mit einem sehr komplexen Thema beschäftigt.
Ist es ein Ereignis, das sich die Automobilbranche selber zuzuschreiben hat?
Bevor alle über einen Kamm geschert werden, muss zuerst analysiert werden, wie in der Vergangenheit zwischen Unternehmen und Zertifizierungsbehörden gearbeitet wurde. Die Politik ist bereits dabei, neue Gesetze zu erlassen, die einen grossen Einfluss auf die kritisierten Test- und Zulassungsverfahren haben werden.
Wie sehr hat dieser Skandal der deutschen Automobilindustrie geschadet?
Das ist im Moment noch nicht abzusehen. Wichtig ist, dass die Branche das Vertrauen der Kunden zurückgewinnen kann. Das wird nur durch transparente Zulassungsprozesse zu erreichen sein. Und diesbezüglich ist die Industrie auf dem richtigen Weg.
Wie können Ihrer Ansicht nach solche Affären in Zukunft verhindert werden?
Es wäre vermessen zu sagen, dass so etwas nie wieder passieren kann. Als Unternehmen kann man aber dafür sorgen, Fehlverhalten wenn möglich schon präventiv abzufangen und dem Mitarbeiter in seiner Tätigkeit juristische Sicherheit zu geben.
Nach Ihrer Berufung in den Daimler-Vorstand gehören Sie zu den einflussreichsten Schweizerinnen der Weltwirtschaft. Wird Ihnen da nicht manchmal ein bisschen schwindlig?
Die Aussage ist wohl etwas übertrieben (lacht). Aber nein, schwindlig wird mir deswegen nicht. Wenn ich zurückblicke, habe ich in all den Schritten, die ich in meiner Karriere gemacht habe, nie die Bodenhaftung verloren und mir immer eine Portion Dankbarkeit und Bescheidenheit bewahrt. Ich bin geerdet und gehe zum Wandern noch immer viel in die Schweizer Berge. Da lernt man, keine Angst vor der Höhe zu haben.
Karriere: Von Düdingen und der Universität Freiburg in die weite Firmenwelt hinaus
Aufgewachsen ist Renata Jungo-Brüngger in Düdingen. Ihr Maturadiplom machte die Senslerin am Kollegium Heilig Kreuz in Freiburg. Und auch ihre berufliche Karriere startete die heute 55-Jährige in der Region: An der Universität Freiburg absolvierte sie ein Studium der Rechtswissenschaften und erwarb 1989 ihr Anwaltspatent. Es folgten Berufsjahre in einer Zürcher Anwaltskanzlei und schliesslich der Schritt in die Unternehmensjuristerei.
150 Milliarden Umsatz
Für das international aufgestellte Handelsunternehmen Metro Holding AG arbeitete Jungo-Brüngger unter anderem in Hongkong; für Emerson Electric war sie zudem in Russland und Amerika tätig. «Diese Projekte haben mir dabei geholfen, das richtige Rüstzeug für Daimler zu sammeln», sagt sie. 2011 warb Daimler die Senslerin als Leiterin der Rechtsabteilung an.
Zum Beginn dieses Jahres wurde sie als Nachfolgerin von Christine Hohmann-Dennhardt, welche es zu Volkswagen zog, in den achtköpfigen Vorstand der Stuttgarter Firma berufen. Mit der Marke Mercedes-Benz gehört Daimler zu den erfolgreichsten Automobilunternehmen der Welt: 2015 beschäftigte der Konzern über 280 000 Mitarbeiter und generierte einen Umsatz von 150 Milliarden Euro.
Unter der Woche wohnt Renata Jungo-Brüngger in Stuttgart, ihren Lebensmittelpunkt hat sie aber nach wie vor in der Schweiz. Sie ist mit einem Zürcher Unternehmer verheiratet. «Wir versuchen uns jedes Wochenende zu sehen», sagt die Juristin. Das Ehepaar fährt häufig in die Berge: «Ich bin immer gerne in den Bündner Bergen, dem Prättigau und dem Engadin. Dort tanke ich Energie, komme zur Ruhe, kann neue Gedanken fassen und Dinge mit etwas Abstand betrachten.» Und auch in der Heimat ist die Senslerin ab und zu anzutreffen. «Ich bin regelmässig zu Besuch bei meiner Mutter und meinem Bruder in Düdingen», erklärt Jungo-Brüngger. «Es dürfte mehr sein, aber häufig fehlt mir die Zeit dazu. Das ist einer der wenigen Nachteile, die mein Job mit sich bringt. mz