Gastkolumne
Autor: Beat Brülhart
Der Schnitter spricht
Guten Tag. Sie kennen mich. Sie sehen mich täglich im Fernsehen und lesen in der Zeitung von mir. Oft besetze ich die Frontseiten. Regelmässig habe ich eine Rubrik, wo ich Inserate schalte.
Manche nennen mich Sensenmann, andere Freund Hein oder Schnitter, viele nur Tod. Ich komme zu allen. Früher oder später. Auch zu Ihnen. Garantiert. Bei einigen ist es nicht überraschend, fast normal, denn sie sind alt und krank. Das ist dann wie ein Abholservice, erwartet und wenig spektakulär.
Bei andern sorge ich manchmal für eine ziemliche Show. Sie stehen mitten im Leben, wie man sagt. Was ja gar nicht stimmt, denn wenn keine zweite Hälfte kommt, gibt es keine Mitte. Diese plötzlichen Finale sorgen meistens ganz schön für Furore.
Ich möchte gerne sagen, was für mich unverständlich ist. Sie kennen doch meine heimtückische Unberechenbarkeit und wissen nicht, wann ich zu Ihnen komme. Wie können Sie trotzdem ganze Tage, ja Monate und Jahre im Hader mit der Welt und sich selbst, in Angst, Negativdenken, Zweifel, Missmut und Neid leben und sich von all den unbedeutenden Kleinigkeiten ärgern, die bereits morgen niemanden mehr interessieren?
Ich kann nicht verstehen, wie Menschen so mit ihrer Zeit umgehen. Sie vertrödeln sie mit Leuten, die ihnen nicht gut tun, mit Arbeit, die sie nicht glücklich macht, mit dunklen Gedanken, die ihre Seligkeit vermiesen, mit Urteilen über andere, obwohl man den andern nie wirklich kennt, mit Dingen, die sie eigentlich gar nicht wollen, mit Halbheiten in der Liebe und dem dummen Fernsehen.
Steh ich dann vor ihrer Türe und fordere sie zum letzten Spaziergang auf, geht das Gezeter los: Wieso ich? Jetzt doch noch nicht!
Und ich antworte ihnen: Hätten Sie Ihr Leben im Bewusstsein verbracht, dass es jederzeit enden kann, dann hätten Sie sich voller Dankbarkeit an seiner Herrlichkeit erfreut. Gründe dafür hatten Sie mehr als genug, und dann wäre diese Angelegenheit hier jetzt kein Problem.
Dann blicken die Leute zurück und sehen, was sie alles verpasst haben, weil sie alles Mögliche beurteilten, verurteilten, kritisierten und mies machten. Und dann tut es ihnen leid und sie möchten noch etwas Zeit haben. Aber dort, wo ich bin, gibt es keine Zeit mehr.
Vielleicht erinnern Sie sich das nächste Mal an mich, wenn Sie sich wieder einmal über unbedeutende Kleinigkeiten ärgern und beklagen. Wenden Sie dann Ihren Blick einer Blume zu. Ich verspreche Ihnen: Der Tag kommt, an dem Sie sie zum letzten Mal sehen.
Beat Brülhart wohnt in Düdingen. Er ist Unternehmensberater und Trainer/Coach für Führungskräfte sowie Referent am Schweizerischen Institut für Unternehmensschulung. Als Mitglied des Gewerbeverbandes Sense ist er in einem FN-Kolumnistenkollektiv tätig, das in regelmässigem Rhythmus frei gewählte Themen bearbeitet.