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«Der Täter rückt ins Zentrum»

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«Der Täter rückt ins Zentrum»

Autor: Anton Jungo

Der junge Historiker Juri Auderset stellte im Anschluss an die Hauptversammlung des Geschichtsforschenden Vereins die Ergebnisse eines seiner Forschungsprojekte vor. Es handelt von «Kriminalität und Strafvollzug in Freiburg um 1900». Die Aufklärung und neue wissenschaftliche Erkenntnisse führten dazu, dass auch Verbrechen und Strafe in neuem Licht erschienen. Juri Auderset versucht in seiner Arbeit aufzuzeigen, wie Freiburg mit diesen neuen Erkenntnissen umgegangen ist.

Sie wiesen in Ihrem Referat darauf hin, dass die Beurteilung der Kriminalität und des Strafvollzuges gegen Ende des 19. Jahrhunderts grossen Umwälzungen unterlag. Welche Änderungen lagen in der Luft?

Die wichtigsten Änderungen in der Beurteilung der Kriminalität und des Strafvollzuges finden ihren Ursprung darin, dass man nun nicht mehr die verbrecherische Tat ins Zentrum der Beobachtung rückte, sondern sich stärker dem Täter zuwandte. Hatte man in den Jahrhunderten zuvor die kriminelle Tat noch im religiösen Sinn als Sünde interpretiert, die man vergelten musste, rückte man während des 19. Jahrhunderts stärker den Verbrecher in den Vordergrund, der durch Gewöhnung und durch seinen speziellen Lebensvollzug zum Gesetzesbrecher wurde, grundsätzlich aber als resozialisierbar galt.

Diese Hinwendung zum Kriminellen als Individuum ging auch damit einher, dass Beurteilung, Bestrafung und Behandlung der Kriminellen nun nicht mehr einfach eine Sache der Justiz und der Religion waren, sondern dass verschiedene Wissenschaften, insbesondere die Medizin und die Psychiatrie, Wissen und Erklärungen über die einzelnen Übeltäter schufen und dies die Beurteilung des kriminellen Verhaltens und auch den Strafvollzug prägte.

Ich denke, dass diese Tendenz hin zum Kriminellen als Individuum einerseits und die daran gekoppelte Ausdifferenzierung der Behandlungs- und Sanktionsformen andererseits wohl die wichtigsten Änderungen waren.

Speziell in Freiburg führte man das kriminelle Verhalten eines Täters auch auf ethisch-moralische Defizite zurück. Kann man etwas darüber sagen, welche Straftaten vor allem geahndet wurden?

Sie suggerieren mit Ihrer Frage einen Zusammenhang zwischen den herrschenden Vorstellungswelten und der Beurteilung kriminellen Verhaltens, und ich denke, dass sich dieser Zusammenhang durchaus historisch rekonstruieren lässt: Genau die Beurteilung des kriminellen Verhaltens als Ausprägung mangelnder religiös-moralischer Bildung sensibilisierte auch den Blick auf die Taten, die geahndet wurden.

In den Kriminalitätsstatistiken für den Kanton Freiburg dominierten im ausgehenden 19. Jahrhundert Eigentums- und Sittlichkeitsdelikte. Dass die Ordnungshüter dermassen auf Fragen der Sittlichkeit achteten, hat auch damit zu tun, dass die katholische Soziallehre als wichtiges Präventionsmittel gegen die Kriminalität verstanden wurde.

Was die Eigentumsdelikte angeht, kann man dies in eine Formulierung packen, die zwar ein bisschen grobschlächtig ist, aber, wie ich denke, trotzdem weitgehend zutrifft: Eigentumskriminalität nimmt dort zu, wo auch die Armut zunimmt, und gerade die Stadt Freiburg war ja um 1900 eines der Armenhäuser der Schweiz.

Welche Folgen hatte dies für den Strafvollzug?

Religiöse Bildung und Arbeitsstrafen gehörten zu den wichtigsten Massnahmen, die im Strafvollzug vorgenommen wurden. Dass Menschen zu Dieben wurden, führte man in dieser Zeit vor allem darauf zurück, dass sie arbeitsscheu waren, weshalb man sie in den Strafanstalten zu Fleiss, Arbeitsamkeit und Genügsamkeit erziehen wollte.

Auch die Religion spielte innerhalb der Gefängnismauern eine wichtige Rolle, da sie diese Tugenden fördern sollte. Man betrachtete die Religion auch als Mittel dazu, dass die Armen ihre Lage gestärkt durch den christlichen Glauben hinnahmen und nicht dagegen aufbegehrten.

Welche Einrichtungen standen Freiburg für den Strafvollzug zur Verfügung?

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in Freiburg ein Netzwerk verschiedener Einrichtungen ausgebildet: Als gefährlich betrachtete Kriminelle wurden im Zuchthaus an der Unteren Matte eingesperrt, diejenigen, die kleinere Vergehen begangen hatten, wurden in der ehemaligen Johanniter-Komturei bei der Sankt-Johann-Brücke oder im ehemaligen Augustinerkloster, das 1851 zu einem Gefängnis umfunktioniert wurde und auch als Untersuchungsgefängnis diente, inhaftiert.

Auch wurde seit 1898 Bellechasse sukzessive ausgebaut und immer mehr Häftlinge wurden dorthin transportiert. Daneben gab es eine Reihe anderer Institutionen, die der Prävention, Bekämpfung und Behandlung der Häftlinge dienten: Waisenhäuser kümmerten sich um die elternlosen Kinder, da man deren Verwahrlosung als Quelle krimineller Karrieren ansah, und in Marsens wurde die psychiatrische Anstalt errichtet – ein Zeichen für die wachsende Deutungsmacht der Medizin und der Psychiatrie in Bezug auf kriminelle Handlungen.

Entsprachen diese Einrichtungen dem Standard in den Nachbarkantonen oder auch international?

Nein. Die Anstalten in der Stadt Freiburg waren ja nicht zum Zweck des Strafvollzuges errichtet worden, sondern waren ältere Gebäude, die dazu umfunktioniert wurden. Dies brachte einige Schwierigkeiten bezüglich der Überwachung und der Sicherheit mit sich und war auch einer der wichtigsten Gründe, weshalb man dann Bellechasse errichtete.

Andere Kantone waren Freiburg in dieser Hinsicht voraus: In Genf und Lausanne wurden bereits in den 1820er-Jahren neue Strafanstalten errichtet, die den Freiburgern als viel diskutiertes Vorbild dienten; auch in Lenzburg wurde in den 1860er-Jahren eine Strafanstalt errichtet, die als modernste Europas galt.

Dass der Druck auf eine Modernisierung des Freiburger Strafvollzugswesens so stieg, hat in der Tat auch mit dem ständigen Vergleich mit den nationalen und internationalen Entwicklungen zu tun.

Wie reagierten die Inhaftierten auf das Regime in den Gefängnissen?

Die Inhaftierten entwickelten eine Vielzahl von Handlungsweisen, um ihren Alltag in den Gefängnissen irgendwie mitzugestalten. Einige gaben sich dem Regime einfach hin, andere begehrten dagegen auf und leisteten auch Widerstand gegenüber Massnahmen, die als ungerechtfertigte Zumutungen empfunden wurden. Die meisten versuchten allerdings, sich mit den Ordnungsprinzipien innerhalb der Anstalt zu arrangieren, Überwachungslücken für sich zu nutzen oder mit Freundschaftsdiensten gegenüber einzelnen Aufsehern irgendwie zu Privilegien zu kommen. Die sozialen Kontakte und die Geselligkeitsformen in den Anstalten waren meist reicher und vielschichtiger, als man sich dies bei Gefängnissen sonst so vorstellen würde.

Hat man alle Inhaftierten «in den gleichen Topf» geworfen, oder lässt sich eine Tendenz erkennen, sie differenziert zu beurteilen?

Ich denke, dass gerade die Differenzierung der Behandlungsformen der Häftlinge eine der wichtigsten Entwicklungen des Strafvollzugswesens im 19. Jahrhundert war. Die bereits genannte Tendenz hin zum Kriminellen als Individuum hat auch dazu geführt, dass man sich vermehrt Gedanken machte über die kriminellen Karrieren und auch Wissen über die einzelnen Häftlinge gesammelt hat.

Hinzu kam, dass mit der Gründung der psychiatrischen Anstalt in Marsens auch die medizinische und psychische Abklärung der Häftlinge nun stärker in den Vordergrund trat. In Bellechasse ist man dann zu einem Stufensystem übergegangen, welches im angelsächsischen Raum bereits verbreitet war: Die Häftlinge wurden zu Beginn ihrer Haftzeit sehr streng behandelt und in Einzelhaft gehalten. Wenn sie sich gut benahmen, durften sie dann am Tag mit anderen Häftlingen zusammenarbeiten und wurden so quasi schrittweise mit grösseren Freiheiten ausgestattet.

Wie ging Freiburg mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen bei der Beurteilung von Kriminellen um?

Auch dies ist eine Besonderheit des auslaufenden 19. Jahrhunderts, dass nämlich die Beurteilung der Kriminellen wie erwähnt nicht mehr einfach eine Angelegenheit der Justiz und der Religion war, sondern dass sich andere Wissenschaften nun auch mit den Kriminellen zu beschäftigen begannen: Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Statistik und Anthropologie entwickelten Erklärungsmuster für kriminelles Verhalten, und diese Dinge wurden dann auch an den Kongressen diskutiert.

In den Freiburger Anstalten fanden diese wissenschaftlichen Erklärungsmuster vor allem in einer stärkeren medizinischen und psychiatrischen Begutachtung der Täter ihren Ausdruck und auch der Statistik schenkte man grosse Aufmerksamkeit.

In Freiburg trafen diese Erklärungen aber nur teilweise auf Resonanz, da die immer noch stark verbreitete religiös-moralische Deutung kriminellen Verhaltens zu diesen Erklärungsmustern Distanz schuf. Sie wurden aber dennoch auch in Freiburg diskutiert.

Die Arbeit von Juri Auderset wird unter dem Titel «Kriminalität und Strafvollzug in Freiburg um 1900. Wahrnehmungsmuster – Leitideen – Herrschaft als soziale Praxis» im Band 86 (2009) der Freiburger Geschichtsblätter erscheinen.

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