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Die fehlende Gelassenheit vor dem Ruhestand

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An die Schulhauswand des Feusi-Schulzentrums in Bern, wo ich vor 32 Jahren meine erste Anstellung als Lehrer erhielt, hatte jemand folgende vier Wörter hingesprayt: «Wann lernen wir leben?» Als Unterrichtender hat man sich dieser Frage wohl oder übel zu stellen, aber kann man sich ihr jemals ganz gewachsen fühlen?

Darf ich mir als Deutschlehrer einbilden, dass meine Schülerinnen und Schüler dank besserer Kenntnis der Kommaregeln, dank der Lektüre von E.T.A. Hoffmann, Georg Büchner und Günter Grass, dank einigen Gedichtanalysen und Erörterungsaufsätzen besser für das Leben und die Zukunft vorbereitet sind? Ich zweifle.

Was für eine Vorstellung von Leben und Zukunft bestimmt unsere Lehrpläne? Ist es überhaupt möglich, in dieser rasant sich verändernden Welt lebens- und zukunftstaugliche Lehrpläne zu machen? Ehe wir zu rennen beginnen, ist die Zukunft bereits ans andere Ende des Horizonts entschwunden und ruft uns zu: «Ich bin schon da!», genau wie in der Fabel von «Igel und Hase».

«Es ist schlimm genug, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfingen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.»

Alle fünf Jahre umlernen, um nicht ganz aus der Mode zu kommen: Dieser skeptische Befund stammt nicht etwa von einem Vertreter der technologiegläubigen Generation Y, sondern von einem gewissen Geheimrat namens Johann Wolfgang von Goethe, geschrieben im Jahre 1809, also vor exakt 208 Jahren. Ich betone: vor 208 Jahren, als sich noch kein Mensch eine vom Telefon oder Auto, geschweige denn von Facebook und Apps geprägte Zukunft vorstellen konnte. Ich getraue mich fast nicht zu fragen, in welchen Intervallen wir denn heute und morgen umlernen müssen, um nicht ganz aus der Mode zu kommen. Wir sind die ersten Laokoons, die nicht durch Schlangen, sondern durch Kabel erwürgt werden.

Als ich einmal einer Klasse gestand, dass es im ersten Drittel meines Berufslebens weder in der Schule noch zu Hause einen PC gab, fragte mich ein ungläubiger Schüler, wie man denn dann zu dieser Zeit ins Internet gekommen sei. Und als ich das erste Mal vor einer Klasse stand, die den Fall der Berliner Mauer nur aus Geschichtsbüchern kannte, kam ich mir alt vor mit meinen neunmalklugen Lehrerweisheiten, meinen verstaubten Kommaregeln, meinem lächerlichen Geheimrat von Goethe. In diesem Augenblick hätte ich mich vor der Frage «Wann lernen wir leben?» geschämt.

Wie, um Gottes willen, sollte ich die Schüler auf eine Zukunft vorbereiten, von der ich nur wusste, dass sie mich überfordern würde, ich, ein unmittelbarer Nachfahre der Hippie-Bewegung, ein frühes Kind der 68er-Jahre, der Zeitzeuge einer Schweiz ohne Frauenstimmrecht. Wozu also die ganze Arbeit? Wozu die tägliche Plackerei des Unterrichtens, des nächtlichen Vorbereitens? Wozu die vielen einsamen Wochenenden, mit dem Korrekturstift über gestapelte Aufsatzhefte gebeugt?

Zu meiner Überraschung war es niemand anders als die Schülerinnen und Schüler selbst, die mich aus meinen Selbstzweifeln befreiten, weil sie durchaus ansprachen auf das, was ich ihnen zu vermitteln hatte. Manchmal aus Höflichkeit, gewiss, aber oftmals auch aus echtem Interesse, hie und da vielleicht sogar im Glauben, dass da etwas zu lernen sei für das eigene Leben, für die eigene Zukunft.

«Zukunft», schreibt der Philosoph Odo von Marquardt, «braucht Herkunft.» Je schneller sich die Welt verändert, desto mehr Vergangenheit müssen wir in die Zukunft mitnehmen. So kommt in die rasante Welt die Langsamkeit hinein, ohne die wir nicht leben können. Also doch Hoffmann und Büchner, Goethe und Grass. Notfalls auch die Kommaregeln, damit die Sätze Sinn ergeben, und die Aufsätze, in denen wir uns in Gedanken die Welt so zurechtlegen, dass wir sie einigermassen begreifen können. Physik, Französisch, Mathematik und Biologie kann man lernen, um sie zu verstehen. Das Leben aber muss man leben, ohne es jemals ganz verstehen zu können.

In der verzagten Frage: «Wann lernen wir leben?» ist die Vorstellung enthalten, dass das Leben nicht von selbst gelingt, dass wir es pflegen und vor allem Lebensfeindlichen schützen müssen. Glauben Sie nicht, dass Sie diese Fähigkeit mit dem Erwerb eines Zeugnisses, auch wenn dieses Matura, also Reifezeugnis, heisst, in der Tasche haben. Solange es Schulen und Fakultäten sind, die uns prüfen, sind wir jung. Das Leben ist die einzige Schule, der wir nie entwachsen, wo wir ständig Schüler bleiben. Das braucht kein schlechtes Los zu sein.

Liebe Maturandinnen und Maturanden, was ich Ihnen also wünsche: Leben! Und da es ein einmaliges ist, dass es ihr eigenes Leben werde. Dass Sie es wagen, Ihr eigenes Leben daraus zu machen. Das wünsche ich Ihnen von Herzen.

Mich persönlich erwartet der Ruhestand. Eine Vorstellung, die etwas Beunruhigendes hat. Noch fehlt mir die Gelassenheit des einstigen amerikanischen Präsidenten Dwight David Eisenhower, der auf die Frage, wie er sich denn ein Leben nach der Politik vorstelle, geantwortet haben soll: «Das erste halbe Jahr setze ich mich in meinen Schaukelstuhl. Das zweite halbe Jahr beginne ich zu schaukeln.»

Ein Lehrerleben ist lang und reich genug, dass ich mich nicht zu fürchten brauche, dass mir beim Schaukeln jemals die schönen Gedanken ausgehen werden …

Hubert Schaller unterrichtet Deutsch und Philosophie am Kollegium St. Michael. Er ist unter anderem Autor der Gedichtbände «Trommelfellschläge» (1986), «Drùm» (2005) und «Federleicht» (2016). Als FN-Gastkolumnist schreibt er regelmässig über selbst gewählte Themen.

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