Die Poesie des Alltags
Autor: Carole Schneuwly
Er lebte von der Fotografie, sah sich selbst aber als «ewigen Amateur». Er arbeitete im Auftrag von Zeitschriften und Agenturen, ohne seine eigenwillige Bildsprache aufzugeben. Er verliess seine Heimatstadt Budapest, um in Paris und New York sein Glück zu versuchen, obwohl er, schüchtern und zurückhaltend, in der Fremde niemals gänzlich heimisch wurde.
Der ungarische Fotograf André Kertész (1894-1985) war ein Mann der Gegensätze, der auch in schwierigen Zeiten unbeirrt seinen Weg ging. Dazu passt, dass er, unbestritten einer der einflussreichsten Fotografen des 20. Jahrhunderts, zu Lebzeiten längst nicht immer auf Bewunderung stiess, sondern oftmals Ablehnung und Unverständnis erntete.
Drei Schaffensphasen
Zum Verständnis und zur Einordnung von Kertész’ Schaffen trägt nun eine umfassende Retrospektive im Fotomuseum Winterthur bei. 250 Fotografien und weitere Materialien sind chronologisch angeordnet und beleuchten die drei Phasen von Kertész’ Leben und Werk, in Budapest, in Paris und in New York.
Die Ausstellung zeigt, warum Kertész heute als Mitbegründer der modernen Fotoreportage und als Wegbereiter der künstlerischen Fotografie gilt. Sie illustriert seinen Einfluss auf Zeitgenossen wie Brassaï und Henri Cartier-Bresson. Und sie greift die verschiedenen Themen auf, die Kertész’ Arbeit ausmachten und über sein eigenes Schaffen hinauswiesen: seinen Blick für die Poesie des Alltags, das Spiel mit Licht und Schatten, die Experimentierfreude (etwa in den berühmten «Distortions»), die Arbeit mit grafischen Elementen, den künstlerischen Umgang mit Gefühlen, besonders der Melancholie und der Einsamkeit, die ihn zeitlebens begleiteten.
«Ich drücke mich selbst aus»
«Ich habe nie einfach Fotos gemacht», sagte Kertész selbst, «ich drücke fotografisch mich selbst aus.» Das tat er schon mit seiner allerersten Kamera, die er als 18-Jähriger erstand und mit der er anfing, seine Umgebung zu fotografieren: Menschen, Tiere, Häuser oder auch einmal seinen eigenen Schatten. Während des Ersten Weltkriegs dokumentierte er das Kriegsgeschehen und veröffentlichte seine ersten Bilder. Der grösste Teil seiner frühen Negative und Abzüge ging 1918 verloren.
Als er 1925 nach Paris kam, stand im Ausländermelderegister hinter seinem Namen zwar «Fotoreporter», doch wie ein typischer Fotoreporter gebärdete sich Kertész nicht. Er interessierte sich weniger für die Dokumentation aktueller Geschehnisse als für das Erarbeiten eigener Themen. Bald bekam er erste Aufträge, und als 1928 mit «Vu» das erste französische Fotomagazin mit langen Bildstrecken erschien, war er von Anfang an dabei. Ebenfalls in seiner Pariser Zeit begann er mit seiner Serie «Distorsions», den verzerrten Bildern, für die er mit Zerrspiegeln experimentierte.
Heimatlos und deprimiert
Seine Erfolge in Paris brachten Kertész 1936 einen Ruf der Agentur Keystone nach New York ein. Er nahm das Angebot an, arbeitete aber nur während eines Jahres für Keystone. Es folgten schwierige Jahre, in denen Kertész vor allem in Zeitschriften des Verlags Condé Nast publizierte und feststellen musste, dass seine Bildsprache in den USA auf wenig Gegenliebe stiess. Er fühlte sich unverstanden, heimatlos und deprimiert, und seine melancholische Grundstimmung schlug sich in vielen seiner Bilder nieder.
Erst in den Sechzigerjahren kehrte der Erfolg zurück, unter anderem mit einem Portfolio in der Fotozeitschrift «Camera» 1963 und einer Retrospektive im Museum of Modern Art 1964. Die Nachfrage nach Kertész’ Bildern stieg rasant, und er wurde zu einem der meistpublizierten Fotografen. Seine Experimentierfreude behielt er bei: So entdeckte er in seinen letzten Lebensjahren die Technik des Polaroids und schuf noch einmal eine überraschende Bildserie, die auch den Schlusspunkt der Winterthurer Ausstellung bildet.
Fotomuseum, Grüzenstrasse 44+45, Winterthur. Bis zum 15. Mai. Di. bis So. 11 bis 18 Uhr, Mi. 11 bis 20 Uhr. Gleichzeitig in der Fotostiftung: «Kurt Caviezel: Global Affairs – Erkundungen im Netz».