Ein Tag zwischen Kinoleinwand und Apérohäppchen
Autor: Urs Haenni
Man sollte alle Filme um 8.30 Uhr morgens vorführen; da trifft man nur auf Freunde», sagt Edouard Waintrop, als er am Sonntag früh im grossen Saal des Kinos Rex zur Vorführung für akkreditierte Personen eintrifft. Waintrop will sich «Tropa de Elite 2» anschauen. Bislang hat er den Film nur auf kleinen Bildschirmen gesehen.
Er hätte gedacht, er wäre alleine, so der Festivaldirektor, dem die Müdigkeit nicht anzumerken ist. Dabei hat der Eröffnungsabend tags zuvor lange gedauert. Als Überraschungsgast zu Waintrops letztem Festival als Direktor in Freiburg ist Thierry Frémaux gekommen, der künstlerische Direktor des Filmfestivals von Cannes. Waintrop ist noch bis ein Uhr morgens bei ihm im Hotel geblieben.
Nun aber ist das Festival am Laufen. Die Unsicherheiten, ob alles klappt mit der Eröffnung, den Filmen, dem Empfang der Gäste liegen hinter dem Direktor. Der erste Sonntag des Festivals, da will Waintrop den Puls beim Publikum fühlen. Es sei ein stark frequentierter Tag. Da wisse man schon, in welche Richtung sich das Festival publikumsmässig bewege.
Botschafter der Filme
So bleibt denn Edouard Waintrop den ganzen Tag lang ein Botschafter der Filme. «Ein grosser Film», urteilt er nun über «Tropa de Elite 2», und sagt es jedem, der ihm in den nächsten anderthalb, zwei Stunden begegnet. Den brasilianischen Regisseur José Padilha wolle er unbedingt bei seinem nächsten Job den Genfern bekannt machen.
Nach der Vorführung kehrt der Direktor zurück in sein «Hauptquartier» im Alten Bahnhof. Er schaut kurz in jedes Büro, klopft und ruft «Bonjour Mesdames. Ça va?» Der Franzose versprüht gute Laune. Für fünf Minuten schliesst sich die Tür seines kleinen Büros. Er bespricht sich mit einem Spezialisten für lateinamerikanisches Kino. Im Büro findet sich Waintrop nicht oft während des Festivals. «Meistens kurz am Morgen, um E-Mails anzuschauen.»
Mittagessen mit den Jurys
Um elf Uhr möchte der Cinéphile nochmals ins NH-Hotel, um sich vom Freund aus Cannes zu verabschieden. Noch etwas Schokolade möchte er ihm mitbringen. Doch da trifft Waintrop schon im Café des Alten Bahnhofs auf Frémaux. «Bisou» hier und «bisou» da, dann stellt er dem Mann aus Cannes Sunil Doshi vor, Jury-Mitglied aus Indien, und erzählt, wie sie sich kennengelernt haben: in einem Taxi in Neu-Delhi.
Waintrop wird später auf die Mitglieder aller Jurys treffen, um 12.30 Uhr im «Bindella». Man wird zusammen zu Mittag essen und danach noch die Präsidenten der Jurys bestimmen. Der Journalist muss da draussen bleiben. Zu heikel.
Seelentröster
Waintrop kommt leicht verspätet ins «Bindella» und vergisst dann prompt fast noch, die Jury-Präsidenten wählen zu lassen, weil er vorher im Cap’Ciné die Moral des palästinensischen Regisseurs Raed Andoni wieder ein bisschen aufpäppeln muss. Andonis Wettbewerbsfilm «Fix Me», für den sich Waintrop persönlich eingesetzt hatte, war am Samstag aufgrund technischer Probleme nicht gezeigt worden; nun wurde das nachgeholt.
Gegen 15 Uhr ist Edouard Waintrop wieder im Cap’Ciné. Er wolle ein paar Worte zum Film «Carlos» sagen, aber nicht zu viele, denn der Film sei mit 5 Stunden und 34 Minuten noch lange genug. «The ultimate experience», wie er sagt. Waintrop und Generalsekretärin Esther Widmer haben den Film in Cannes entdeckt und danach die Idee zum Panorama über Terroristen gehabt. Nun wird er zum ersten und möglicherweise auch zum einzigen Mal in der Schweiz gezeigt.
«Au revoir, Edouard»
Weiter geht es im Cap’Ciné. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), eine Hauptsponsorin des Festivals, feiert ihr 50-jähriges Bestehen. Aus diesem Grund übernimmt sie das Patronat für den Film «Paraíso». Regisseur Héctor Gálvez ist anwesend, anschliessend gibt es ein Apéro. Der Festivaldirektor kehrt zwischendurch zurück zum Alten Bahnhof, nicht ohne noch für den Film «Reconciliation, Mandela’s Miracle» geworben zu haben. Er wird ihn am Abend vorstellen und dabei den Regisseur Michael Henry Wilson begrüssen.
Die Akkreditierten sind beim Nachtessen, Thierry Frémaux ist wieder auf dem Weg nach Cannes, die Jurymitglieder walten ihres Amtes, der palästinensische Regisseur ist wieder munter, die Deza-Leute in Bern, «Carlos» läuft immer noch, und der Festivaldirektor ist an vorderster Front, im Kinosaal. Nur dann schaut er jeweils verschämt weg: Wenn vor dem Film das Sponsoren-Dia «Au revoir, Edouard» projiziert wird.