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«Es ist, als hätte es die Kinder nie gegeben»

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An einem Sonntagmorgen im Frühsommer 1936 wird das Leben von sieben Kindern auf den Kopf gestellt: Sie müssen sich nach der Messe in Reih und Glied neben der Kirche aufstellen, werden taxiert und dann aufgeteilt. Das ist das Schicksal der Familie Neuhaus aus Oberschrot, für die der Vater nach dem Tod der Mutter im Wochenbett nicht mehr sorgen kann. Die Kinder–das älteste 14-jährig und das jüngste ein Jahr alt–kommen in neue Familien. Auf Höfe und in Haushalte, wo sie teils nur widerwillig aufgenommen werden, wo sie als billige Arbeitskraft schuften, wo sie für Nichtigkeiten bestraft werden und wo ihnen immer wieder klar zu spüren gegeben wird, dass sie nur geduldet sind.

Die Geschichte dieser Kinder aus dem Sense-Oberland ist auch die Geschichte von Zita Neuhaus: Im Buch «Dem Taugenichts sein Lied» erzählt sie über das Leben ihres Vaters, ihrer Onkel und Tanten. Das Buch steht stellvertretend für das Schicksal der rund 100 000 Verdingkinder in der Schweiz (siehe Kasten links).

Distanzierter Vater

Für Zita Neuhaus war es ein jahrelanger Prozess, bis sie anfing, die Geschichte ihres Vaters zu erforschen. «Er hat nie etwas über seine Vergangenheit erzählt, und uns Kindern war irgendwie klar: Darüber spricht man nicht», erklärt sie im Gespräch. Und doch liess sie die Frage nach der Vergangenheit nicht los. «Denn es war ja auch meine Geschichte.» Erst nach dem Tod ihres Vaters war eine ihrer Tanten bereit, für die schweizweite Ausstellung «Verdingkinder reden» ihr Herz zu öffnen und ihre Erlebnisse später auch ihrer Nichte zu erzählen. «Ich habe gemerkt, wie wichtig es ihr ist, dass endlich darüber gesprochen wird», erzählt Zita Neuhaus. Eine zentrale Wahrnehmung ehemaliger Verdingkinder sei das ohnmächtige Gefühl, allein und verlassen zu sein. «Meine Tante sagte immer: Wir haben nicht existiert.» Zita Neuhaus hat dies ermutigt, ihre Recherchen voranzutreiben und sie in einem Buch zu veröffentlichen.

Schwierige Recherchen

Bei ihren Nachforschungen, unterstützt von der Opferberatungsstelle, hat sie in Archiven des Kantons Freiburg, von Gerichten, Gemeinden und Pfarreien sowie Institutionen wie Waisenhäusern nach Unterlagen gesucht. Nicht immer wurden ihre Anliegen unterstützt, und wo dies doch der Fall war, blieb die Suche erfolglos. «Man findet nichts im Archiv über die Fremdplatzierung der Kinder: keine Namensliste, keine Informationen über Entscheidungswege oder Abläufe oder Geldflüsse–es ist, als ob es sie nie gegeben hätte.» Sie ist überzeugt, dass es doch Spuren geben muss, und hofft, dass das Archivmaterial bald professioneller zugänglich gemacht wird–im Andenken an die Betroffenen. Halte man diese Informationen weiter unter dem Deckel, sei es, als ob man das Verhalten von damals fortsetze. «Es ist mir nie darum gegangen, jemanden an den Pranger zu stellen», hält sie fest. Sie verlange auch keine Wiedergutmachung oder eine Entschuldigung für sich, wohl aber für die Betroffenen. «Ich will, dass diese Menschen wahrgenommen und mit der Würde behandelt werden, die jeder Mensch verdient.»

Viel Persönliches

Als es um den Aufbau des Buches ging, wurde ihr auch klar, dass sie nicht nur die Geschichte ihrer Grosseltern–ebenfalls Verdingkinder–und der Familie ihres Vaters erzählen will, sondern ein Stück weit ihre eigene. Es sei immer eine Gratwanderung gewesen, wie viel sie preisgeben wolle. «Ich habe gemerkt, dass es eine gewisse Offenheit braucht, damit die Erzählung nicht an der Oberfläche bleibt.»

Sie lässt im Buch eine Tante und einen Onkel mit den fiktiven Namen Lena und Johann zu Wort kommen. Der achtjährige Johann erzählt, wie er zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder, dem Vater der Autorin, bei den Schweinen und Kälbern schlafen musste, wie ihnen jeglicher Kontakt zu den anderen Geschwistern verboten wurde und wie ihn der Lehrer grundlos verprügelte.

Lena erzählt vom Essen, das es jeden Tag gab: Suppe mit Würmern drin, im Winter gestreckt mit zwei Löffeln Milch und einer gerösteten Zwiebel. Dazu schimmeliges Brot. Das Gemüse, das in den Gärten neben dem Haus wuchs, und die Eier aus dem Hühnerstall wurden verkauft, auf den Tisch kam nie etwas. Anerkennung gab es von keiner Seite: Wegen der Flickenkleider und der Herkunft waren die Kinder ein gefundenes Fressen für hänselnde Schulkollegen; selbst die Lehrer und Lehrschwestern machten keinen Hehl daraus, dass ihnen das Schicksal dieser Kinder egal war.

Die beiden erzählen auch von den sexuellen Übergriffen, die sie erleiden mussten, durch die Mitglieder ihrer neuen Familien und sogar durch Priester. «Wenn Du es jemanden erzählst, kommst Du ins Gefängnis», wurde ihnen gedroht. «Niemand hat hingeschaut–aber gewusst haben es alle», sagt Lena.

Stigmatisierung geht weiter

Das Wissen um die Erlebnisse von Onkel und Tante haben Zita Neuhaus ihrem Vater nähergebracht. «Ich habe einen anderen Blickwinkel bekommen und konnte einige Verhaltensweisen besser verstehen.» In Form von Briefen an den verstorbenen Vater zeigt sie auf, wie seine Geschichte ihr Leben beeinflusst hat. «Ich wollte zeigen, dass die Stigmatisierung sich auf die nachfolgenden Generationen weiterzieht», sagt Zita Neuhaus. Es habe sie in ihrer Haltung bestärkt, wie wichtig es sei, Menschen nicht nach ihrer Herkunft in eine Schublade zu stecken, sondern jede Persönlichkeit für sich zu nehmen.

Am Ende des Buchs zieht Zita Neuhaus vor ihren Verwandten den Hut: «Nach den Erlebnissen und Erfahrungen ihrer Kinder- und Jugendzeit hätten sie verzweifeln und sich aufgeben können», sagt sie. «Sie taten es nicht. Sie kämpften um ihre Leben. Sie verdienen dafür Respekt und Anerkennung.»

Zahlen und Fakten

Ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte

Bis 1981 wurden in der Schweiz rund 100000 Kinder aus armen Verhältnissen auf Dorfplätzen versteigert, in Familien oder in Institutionen fremdplatziert, zur Kinderarbeit gezwungen, misshandelt und missbraucht. 2013 entschuldigte sich die Eidgenossenschaft offiziell bei den Opfern dieser Massnahmen; die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, der Zwangssterilisationen und der Verdingung von Kindern begann. Die im Dezember 2014 eingereichte Wiedergutmachungsinitiative fordert, dass die noch lebenden Opfer entschädigt werden. Der Bundesrat hat einen Gegenvorschlag ausgearbeitet.im

Zum Buch

«Dem Taugenichts sein Lied»

Zita Neuhaus ist 55-jährig und wohnt in Freiburg. Sie ist als Heilpädagogin an der OS Wünnewil tätig. Ihr Erstlingswerk trägt den Titel «Dem Taugenichts sein Lied». Dies bezieht sich auf die Jahrzehnte lange Beschimpfung, die Verdingkinder ertragen mussten: wertlos zu sein.im

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