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„Wir wollen nicht weitere 108 Jahre warten“

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«Wir wollen nicht weitere 108 Jahre warten»

 

8.30 Uhr: In der Wäscherei im Pflegeheim St. Martin ist Susanne Kilcher schon seit eineinhalb Stunden am Arbeiten. Die riesigen Waschtrommeln drehen sich im Takt. Alles wie immer. «Ich bin nicht so streikig», sagt die aufgestellte Mittfünfzigerin. Das sagte eben auch die Frau am Empfang. «Wenn wir Frauen hier streiken würden, ginge hier gar nichts mehr», meinte sie. Eben. Susanne Kilcher hat sich extra für den Besuch der FN ein paar Gedanken zum Frauenstreik gemacht und ist zum Schluss gekommen, dass es doch wichtig sei, sich zu wehren. «Es geht ja vor allem um den Lohn, und da bin ich klar der Meinung, dass gleichwertige Arbeit gleich bezahlt werden muss.» Grundsätzlich habe sie es gut getroffen, da sich ihr Lohn nach der kantonalen Gehaltsskala richte. Sie habe das Gefühl, dass sie gleich behandelt werde wie die männlichen Mitarbeiter des technischen Diensts. Die Arbeit des hauswirtschaftlichen Personals finde auch mehr und mehr Wertschätzung. «Das Heim hat meine Ausbildung bezahlt. Wenn man etwas will, ist man in diesem Haus sehr offen.» Kilcher schätzt es zudem, fest angestellt zu sein und Teilzeit arbeiten zu können. Ganz im Unterschied zum Verkauf, wo die Angestellten teilweise sehr schlechte Arbeitsbedingungen hätten, wie sie aus eigener Erfahrung weiss. Also nach der Arbeit doch noch streiken?

 

8.50 Uhr: Mit dem Velo geht es zur Arbeit!!! Richtung Redaktion. So weit alles wie immer. Auf der Zähringerbrücke hängen links und rechts violette Plakate, die auf den besonderen Tag einschwören sollen. Hauen sich heute wohl viele Männer ein Spiegelei in die Pfanne, wie im Film zum Frauenstimmrecht «Die göttliche Ordnung»? 2000 bis 3000 Frauen erwartet das Streikkollektiv zum Umzug um 18.30 durch die Freiburger Innenstadt.

 

9 Uhr: Ein Blick nach oben zum Turm der Kathedrale. Nein, das Streiktuch, das am Donnerstag von Mitgliedern des Streikkollektivs über die Brüstung gehängt wurde, ist nicht mehr da. Ein Anruf beim Sakristan wird mit gleich zwei unwirschen Reaktionen quittiert. «Ich habe persönlich – als Frau – dieses Tuch weggenommen», sagt die Person am Telefon enerviert und reicht den Hörer brüsk weiter. «Sie lügen!», sagt der Sakristan. «Was, ich? Ich bin Journalistin.» – «Wir wurden belogen, man hat mich nie um Erlaubnis gefragt!» Und wenn doch, hätte er das Streiktuch hängen lassen?

9.15 Uhr: Die Primarlehrerin und SVP-Grossrätin Katharina Thalmann teilt ihre Schülerinnen und Schüler der Primarschule Längmatt in Murten in zwei Gruppen ein; in der einen finden sich jene mit braunen Augen, in der anderen Gruppe jene mit blauen oder grünen Augen. Es folgen drei Abstimmungen. Doch: «Abstimmen dürfen nur jene, die braune Augen haben», sagt Thalmann. Bei der ersten Abstimmung stehen zwei Lieder zur Auswahl, die Kinder mit den braunen Augen treffen eine Entscheidung. Die anderen sagen nichts. Bei der zweiten Abstimmung stehen zwei Spiele zur Auswahl. Auch hier: Nur jene mit braunen Augen dürfen wählen. Im Klassenzimmer regt sich Unmut: «Das ist total fies», sagt ein Mädchen. Als es dann auch bei der dritten Entscheidung nur den Schulkindern mit braunen Augen vorbehalten ist mitzureden, wird die Empörung lauter: «Das ist ungerecht. Wir können doch nichts dafür, dass wir blaue Augen haben», ruft ein Junge. Die einen pflichten ihm bei, andere grinsen. Katharina Thalmann bittet die Kinder, sich für ein Forum in einen Kreis zu setzen und fragt: «Was sagt ihr zum Abstimmungsprozedere?» Die Antwort ist deutlich: «Es ist gemein», sagt ein neunjähriges Mädchen. Sie erhält breite Zustimmung. «Wieso können das nächste Mal nicht alle abstimmen?», fragt ein Junge. «Ich habe das extra gemacht, weil es auf der Welt Menschen gibt, die aus irgendeinem Grund nicht mitbestimmen können», sagt Thalmann. «Ah, jetzt weiss ich, warum wir das so machen: Heute ist der Frauenstreiktag», ruft ein Junge, «ich weiss das von meiner Mutter.» Thalmann stimmt ihm fröhlich zu, erklärt den Kindern den Hintergrund des Frauenstreiktags und fragt nach, ob auch sie schon Ungerechtigkeiten erlebt haben. Im Verlauf der Diskussion zeigt sich, dass es diese hier und heute gibt: Beim Juniorenfussball dürfen die Knaben offenbar schneller in die höhere Stufe wechseln als die Mädchen, «auch wenn das Mädchen deutlich besser ist», betont ein Junge. Thalmann bittet um Vorschläge, wie man sich dagegen wehren könne: «Dem Trainer sagen, dass man das unfair findet.» Wenn das nicht reicht: «Streiken oder den Club wechseln.» Oder eine Anzeige wegen Ungerechtigkeit einreichen, schlägt ein Junge vor. «Zum Fussballverband gehen», sagt eine Schülerin. Die Knaben der Schulklasse versprechen den Mädchen zum Schluss der Stunde, ihnen beim Kampf gegen solche Ungerechtigkeiten zu helfen.

 

10.45 Uhr: 400 bis 500 Frauen, aber auch einige Männer bevölkern nach und nach den Georgette-Pythone-Platz. Stände werden aufgebaut, das Gleichstellungsbüro ist vertreten, Frauenorganisationen. Buttons, T-Shirts und Jutetaschen zum Frauenstreik vom 14. Juni 2019 werden verkauft. Wer sich in letzter Minute doch noch bekennen will, kann dies tun.

 

11 Uhr: Auf einem kleinen Podium stellen sich Frauen in violetten T-Shirts mit dem Venussymbol und der Faust in der Mitte in einem Halbkreis auf. «Kennen Sie eine Strasse in Freiburg, die nach einer Frau benannt ist?», ruft eine von ihnen in die Menge. «Marcello.» «Und sonst?» Ein Mann begibt sich zum Mikrofon und zählt zum Ärger vieler Demonstrantinnen vier weitere Strassen auf. «Gut, fünf. Aber das waren sie wohl», kommentiert die Sprecherin den Auftritt. Die Mitglieder des Streikkollektivs verlesen sodann in verschiedenen Sprachen das Streikmanifest in 17 Punkten. «Mir wänd d Abschaffig vo gschlächtsspezifische Stereotype in dr Kultur, i de Medie, i dr Erziehig und i dr Wärbig. Mir wänd der öffentlich Ruum, mir wänd d Politik neu bsetze, dä Platz innäh, wo öis zue­stoht, und das isch d Hälfti.»

 

11.15 Uhr: «C’est parti!» Der Streik hat begonnen. Die Stimmung ist festlich. Im Publikum sind die Alt-Staatsrätinnen Ruth Lüthi und Marie Garnier. Küsschen da, Küsschen dort.

 

11.30 Uhr: Vor der Aula der Uni Miséricorde stehen gut hundert Personen herum. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass sie an einem akademischen Anlass teilnehmen und nicht streiken. Zum Streikappell vor der Aula hätten sich aber trotzdem viele Leute eingefunden, versichern die Gleichstellungsbeauftragte der Uni und eine Vertreterin der Studierendenorganisation AGEF.

 

14 Uhr: Auf den Strassen rund um den Georgette-Pythone-Platz sind immer mehr violette Hüte, Ballons und T-Shirts zu sehen. Auch die kurdische Kebab-Verkäuferin trägt ein violettes Streik-Halstuch. «Ich werde um 18.30 an den Umzug gehen», sagt sie.

14.15 Uhr: Ein weisser Hund wird von seinem Herrchen durch die Menge gezogen. Auch er – der Hund – trägt ein violettes Halstuch. Die Sonne scheint. Auf dem Platz dürften sich unterdessen locker 2000 Personen versammelt haben.

 

15.25 Uhr: «Seit wann dürfen Frauen in der Schweiz ohne Einwilligung des Ehemannes arbeiten?» Trudy Gross-Gobet und Madlen Stadler aus Bösingen nehmen am Stand der Gewerkschaft Syna an einem Wettbewerb teil. «1958? 1968? 1978? 1988?»* «Seit wann gibt es eine Mutterschaftsversicherung in der Schweiz? 1995? 1999? 2005? 2009?»** «Wer kümmert sich am meisten um die Betreuung von Kindern im Vorschulalter?» «Kita? Vater und Mutter? Grosseltern? Mutter und Grosseltern?»*** Diese Antwort kennt Trudy Gross-Gobet aus eigener Erfahrung. «Es gibt immer noch zu wenig Tagesstrukturen. Das sehe ich bei meinen Kindern. Da sind die tter einfach gefragt.» Aber das sei nur ein Problem, so Gross-Gobet. «Die Lohnungleichheiten sind weiterhin stossend, und es braucht Chancengleichheit.» Die Rentnerin streikte schon 1991 für die Rechte der Frauen, und zwar in Bösingen. «Der Dorfbeck kochte damals für alle Risotto. Wir waren uns aber nicht sicher, ob er das nicht viel mehr für die armen Männer macht», erzählt Gross-Gobet lachend. Und wie fühlen sich die beiden Frauen heute? «Ich bin berührt von den vielen Menschen, die gekommen sind», sagt Madlen Stalder. Sie vermutet, dass es früher vielleicht leichter war zu streiken. «Heute sind die Frauen beruflich so eingespannt, dass sie kaum Zeit haben.»

 

15.35 Uhr: Der Georgette-Pythone-Platz ist voll. Die Frauen sitzen auf dem Boden und lauschen den Reden. Dann stehen alle auf, klatschen, johlen und rufen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Gänsehaut.

18.00 Uhr: Von überall her stossen weitere Gruppen zu den Frauen. Schon jetzt ist klar, dass die Erwartungen des Streikkollektivs weit übertroffen werden. Immer mehr Männer bekunden ihre Solidarität mit den Frauen. Es wird getanzt.

18.30 Uhr: Der Demonstrationszug startet. Der Weg führt über die Romontgasse zur Post und von da aus Richtung Uni, Wallriss, Lausannegasse zum Georgettes-Pythone-Platz. Vom Kopf des Zuges her ist das Ende der Menschenschlange zu keinem Zeitpunkt zu sehen. Die Menge skandiert: «Solidarité avec les femmes du monde entier.»

20 Uhr: Auf dem Georgettes-Py­thone-Platz verkündet das Streikkollektiv die Zahl der Teilnehmenden: 12 000 Menschen sind dem Streikaufruf gefolgt. Das ist historisch. Eine so grosse Kundgebung gab es noch nie in Freiburg. Gegen die Schliessung der Brauerei Cardinal waren es 10 000 Personen.

20.05 Uhr: «Ce n’est pas un rêve, nous sommes vraiment en grève.» Das ist kein Traum, wir streiken tatsächlich, singt ein Frauenchor. Viele stimmen in die Hymne des Frauenstreiks ein.

20.15 Uhr: Die Mitglieder des Streikkomitees ergreifen das Wort. Einigen von ihnen laufen vor Rührung die Tränen herunter. «Heute ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur vollständigen Gleichberechtigung», sagt Mélanie Glayre. «Aber wir wollen nicht weitere 108 Jahre warten bis es so weit ist», stellt Marie-Louise Fries klar. 108 Jahre soll es laut dem «World Gender Gap Report» des Weltwirtschaftsforums WEF nämlich noch dauern, bis die Geschlechterkluft weltweit geschlossen ist, sollte es im bisherigen Tempo vorangehen. Dabei ist es um die Schweiz nicht besonders gut bestellt. Obwohl sie sich von Platz 21 im Vorjahr auf Platz 20 vorgearbeitet hat – dies vor allem wegen der politischen Teilhabe der Frauen –, haben sich die wirtschaftlichen Chancen der Frauen hierzulande verschlechtert. Im Bereich Lohngleichheit fällt die Schweiz gar um zehn Plätze auf Rang 44 zurück. Im internationalen Vergleich zwischen 149 Ländern führt Island die Rangliste in Sachen Gleichberechtigung an, gefolgt von Norwegen, Schweden, Finnland, Nicaragua und Ruanda. «Die Leute meinen immer, dass wir auf Platz eins sind. Das ist immer noch nicht so. Und da­rum sind wir heute hier.» Konkrete Taten müssten nun folgen, sagte Cathe­rine Friedli. «Das Wichtigste, was wir mit diesem Streik erreicht haben, ist das feministische Netz, das wir in Freiburg kreieren konnten.»

Open End

*1988, **2005, ***Mütter und Grossmütter

2. Nationaler Frauenstreik

Grossaufmarsch in vielen Schweizer Städten und Tampons-Petition

Der dezentral organisierte zweite Frauenstreik in der Schweiz vermochte landesweit stark zu mobilisieren. Die Organisatorinnen gehen von Hunderttausenden von Frauen aus, die gleiche lange Spiesse im gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Leben einforderten.

Bereits vor Beginn der Grosskundgebungen in den verschiedenen Landesteilen sei klar, dass sich am Frauenstreik 2019 Hunderttausende Frauen beteiligt hätten, schrieb der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) gestern Abend. Allein bei den Aktionen bis zum Mittag hätten schweizweit gegen 100 000 Personen auf der Strasse und in den Betrieben teilgenommen.

In der Westschweiz wurden Dutzende Schulen und Kindertagesstätten bestreikt. Kristallisationspunkt des Kampftags war jedoch der Berner Bundesplatz. Bis Mittag beteiligten sich insgesamt rund 10 000 Frauen und Männer am Streik. Politikerinnen inklusive Bundesrätin Viola Amherd mischten sich unter die Frauen. Sie wurden von der Menge lautstark begrüsst. Zur Abendkundgebung strömten geschätzte 40 000 Frauen.

Nichts ging mehr um die Mittagszeit rund um den Zürcher Hauptbahnhof: Mehrere Hundert Demonstrantinnen des Frauenstreiks hatten sich auf die Tramgleise beim Central gesetzt und den Verkehrsknotenpunkt mit Bändern abgesperrt. An der Schlusskundgebung nahmen 70 000 Frauen teil.

Grösste Demo der jüngeren Geschichte

Die Organisatorinnen bezeichneten den zweiten Frauenstreik als grösste politische Demonstration der jüngeren Geschichte. Nach ihren Schätzungen dürften sich mehr Frauen beteiligt haben als 1991, wo es eine halbe Million waren. Bereits am Mittag hatte sich die Gewerkschaft Unia begeistert geäussert über den Verlauf des Frauenstreiks: Die grosse Resonanz und Mobilisierung zeige, dass die Verbesserung der Lebens und Arbeitsbedingungen «überfällig und bitter notwendig ist». Der Tag zeige überdeutlich, dass die Gleichstellung der Geschlechter eine der drängendsten sozialen Fragen der Schweiz sei.

Einen handfesten Erfolg gab es aus Luzern zu vermelden: Nach drei Stunden Streik hat der Arbeitgeber einer Reinigungsfirma gemäss SGB den Mitarbeiterinnen zugesichert, dass Vor- und Nachbearbeitungsarbeiten sowie die Reisezeit ab sofort bezahlt würden.

Solidarität gab es auch aus den USA: Mitarbeiterinnen von McDonalds, die sich derzeit in den USA wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz im Streik befinden, sind am Freitag nach Zürich gereist, um sich ihren Schweizer Kolleginnen am Frauenstreiktag anzuschliessen.

Runter mit der «Tampon-Steuer»

Mehr als 11 000 Personen haben eine Petition mit der Forderung unterschrieben «Bloody Unfair – Runter mit der Tampon-Steuer». Gestern ist die Bittschrift dem Parlament übergeben worden. Die Petition war am Welt-Frauentag am 8. März lanciert worden. Sie fordert den reduzierten Mehrwertsteuersatz von 2,5 Prozent für Damen-Hygieneprodukte. Der reduzierte Mehrwertsteuersatz von 2,5 Prozent gilt für Güter des täglichen Bedarfs. Tampons und Binden werden indes zum Normalsatz von 7,7 Prozent besteuert. Die höhere Mehrwertsteuer respektive höhere Preise träfen Frauen in vielen Lebensbereichen – nicht nur bei Kosmetikprodukten, sondern auch bei Dienstleistungen, schrieb Campax, die Organisation hinter der Petition. Der Nationalrat erklärte sich mit dem Anliegen einverstanden. Er hiess bereits in der Frühjahrssession eine Motion des Neuenburger SP-Nationalrats Jacques-André Maire gut, die auch der Bundesrat unterstützt. Die Motion kommt nun noch in den Ständerat.

sda/rsa

 

 

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