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Unten angekommen

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Das ist ein bezahlter Beitrag mit kommerziellem Charakter. Text und Bild wurden von der Firma Muster AG aus Musterwil zur Verfügung gestellt oder im Auftrag der Muster AG erstellt.

Es ist noch nicht lange her, da wurde ich konfrontiert mit neuen Nachbarn. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern und zwei junge Männer, diese unabhängig voneinander. Konfrontiert deshalb, weil all diese Unbekannten mich mit ihrer blossen Anwesenheit immer wieder herausforderten, mich mit meinen Empfindungen ihrer Situation gegenüber zu beschäftigen.

 

 

Alle neuen Nachbarn leben auf der Strasse, sind wohnungslose Menschen, Arbeitslose. Ich treffe immer wieder auf sie, da sie stets an denselben Stellen auf dem Strassenboden sitzen. Manchmal liegt eines der Familienmitglieder, oder es schläft ein Kind, oder beide. Die beiden jungen Männer lesen den ganzen Tag in Büchern, fast reglos. Ich kann jeweils sehen, wie viel sie wieder weitergelesen haben, an der Breite der Papierseiten, die sich rechts oder links im Buchdeckel beigen. Ich konnte mehrmals sehen, dass eine ältere Frau zur Mittagszeit dem einen dort sitzenden Mann eine Schale mit Essen brachte, in liebevoller Gestik und als würde sie an einem Tisch servieren. Und ich kann auch sehen, wenn die Mutter der Familie den Kindern etwas erzählt oder der Vater ihnen Kleidung an- oder auszieht, je nach Wetter.

Ich kann so lange an diesen Leben teilnehmen, wie ich zusehen will, so lange, wie ich es aushalte, zu spüren, dass wir nicht in einem Einheitsraum leben, da sie «unten» sitzen, ich «oben» stehe. Sie sind Ausgegrenzte in ihrer Situation. Sie sind «draussen», in doppelter Hinsicht. Welche Ungerechtigkeit hat dies so eingerichtet? Diese neuen Nachbarn leben in der Grossstadt, in der auch ich von Zeit zu Zeit lebe, weil ich das frei wählen kann. Weil ich eine von «drinnen» bin, also persönliche Entscheidungsfreiheit habe. Sie sind sozusagen verurteilt zu einer Lebensführung, die Betteln heisst. Und sie tun dies ständig in der Öffentlichkeit, allen fragenden, kritischen, mitleidigen, strafenden Blicken ausgesetzt.

 

Sie machen keine Probleme, sie haben Probleme. Die Familie ist syrisch, sagte sie mir, die beiden jungen Männer sind Franzosen, und die Grossstadt ist Paris, es könnte auch eine andere sein. Beim nahen Bahnhof, wo die syrische Familie sitzt, wurden kürzlich bei der Renovation hohe Gitter nah an die Bodenfenster-Nischen gesetzt. Da hatten sich vorher über längere Zeit einige Wohnungslose eigene Formen der Selbsthilfe ausgedacht, sich arrangiert mit Dingen, die sie finden konnten: Kartonteile, Plastikplanen, alte Matratzen, Holzreste, Decken, Papier … Bei Renovationen achte man heute darauf, keine Nischen freizuhalten und keine breiten Simse mehr zu bauen, um solchen Selbsthilfeformen von Ausgegrenzten zuvorzukommen, sagte man mir.

 

Die beiden jungen Männer sind äusserlich Menschen wie du und ich. Man erkennt, dass sie noch nicht lange auf der Strasse leben. An ihrer (noch) sauberen, guten Kleidung, an ihrer Scham, wenn sie ab und zu Vorbeigehenden antworten, wenn diese sie etwas fragen. Dann beugen sie sich wieder über ihre Bücher und lesen. Ausgegrenzt sein bedeutet sozialer Ausschluss. Wer einmal herausfällt aus der Leistungsgesellschaft, dessen bisher gelebtes Leben zerfällt. Das kann ganz plötzlich geschehen, rasant, und man ist in der Umklammerung der Armut und Einsamkeit. «Unten angekommen», heisst es in einem meiner Bücher.

So hatte ich über wohnungslose, ausweglose Schicksale gelesen, und dann war ich auch in meiner unmittelbaren Nähe mit solchen konfrontiert und sah, wie wahr alles Geschriebene ist. Es ist dieses Wissen, das mir dann im Magen liegt, wenn ich stehen bleibe, wenn jemand mich um Hilfe bittet. Ich Almosen gebend und «oben» stehend … So lief es auch ab mit den neuen Nachbarn, ich konnte dem Gefühl schlecht ausweichen. Ich begegnete ihnen, wir grüssten uns manchmal, da man sich eben öfter sah, und ich spürte diese fast prinzipielle Verlegenheit ihnen gegenüber. Sie heisst: Ich weiss, ich ändere nichts an deiner Lebenslage, und das Almosengeben weist dir, wie allen ausgegrenzten Menschen, erst recht den Platz der Dankbarkeit und Bescheidenheit zu.

 

An meiner Lebenslage änderte sich aber durch solche Begegnungen immer wieder etwas. Ich habe sehr Respekt vor Menschen, die im Elend nicht aggressiv und feindlich erscheinen, ich bewundere sie jedes Mal. Und vielleicht fährt mir ja auch dies in den Magen, dass es genau das ist, was Gebende eben erwarten: Wenn du schon was bekommst, sei dankbar und bleib sitzen. Unten.

 

Sicher, viele erinnern sich an die Pariser Bettler, die Clochards. Ihnen wurde zuerkannt, freiheitsliebend und selbstbestimmt ihr Leben zu leben, am liebsten mit einer Flasche in der Hand. Man sagte, die wollen das so. Sie wurden immer mehr zu einer Art Pariser Grossstadt-Dekor. Ihre Bedürftigkeit wurde und wird mit dieser Romantik nicht anerkannt. Und die Ignoranz ihres Elends gipfelt in der Tatsache, sie nur als die Lebenslustigen darzustellen.

 

Die syrische Familie habe ich seit langem nicht mehr gesehen. Die beiden jungen Männer sitzen noch an ihren gewohnten Stellen.

Sus Heiniger ist Kunstmalerin und lebt in Murten. Als FN-Gastkolumnistin schreibt sie regelmässig über selbst gewählte Themen.

 

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