Vor über 30 Jahren soll ein Bruder des Zisterzienserordens in Hauterive Frauen unsittlich berührt haben. Nun will die Gemeinschaft die ganze Wahrheit wissen.
Als der Abt des Klosters Altenryf, Marc de Pothuau, 2019 erfuhr, dass eine Frau durch einen ehemaligen Ordensbruder sexuell unsittlich berührt worden war, war dieser sofort alarmiert. Er traf sich mit dem Opfer und informierte umgehend die Polizei über das Geschehene. Ein Strafverfahren blieb allerdings aus. Nicht nur, weil die Frau auf eine Anzeige verzichtete, sondern auch, weil die Taten bereits verjährt waren. Der Abt aber liess nicht locker. Er recherchierte weiter und wurde des Ausmasses des Problems erst richtig gewahr.
Problem seit 1992 bekannt
Der angeschuldigte Bruder war in den 1980er-Jahren zuständig für den Gästebereich des Klosters. Er galt als charismatisch und fröhlich. Dabei respektierte er aber offenbar nicht immer den gebührenden Abstand zu einigen Frauen. Als sich im September 1992 eine Frau beim damaligen und inzwischen verstorbenen Abt Bernhard Kaul beschwerte, entzog dieser dem Bruder das Amt im Gästehaus. Zur Strafe versetzte er ihn Anfang 1993 zudem in eine andere Gemeinschaft. Kaul schrieb auch alle Bekannten des Bruders an, um in Erfahrung zu bringen, ob es noch zu weiteren Übergriffen gekommen war. Doch ausser einer Frau, die berichtete, dass der Mönch versucht habe, sie auf den Mund zu küssen, was sie ihm aber verziehen habe, gab es offenbar nur Lob.
Kaul hielt es unter diesen Umständen scheinbar nicht für nötig, seinen Nachfolger, Abt Mauro-Giuseppe Lepori, über die Probleme mit dem Bruder zu informieren. Auch hatte es keine Beschwerden über sexualisierte Übergriffe mehr gegeben. Doch gleich nach seiner Wahl zum Abt habe Lepori gemerkt, dass der Bruder eine heimliche Beziehung mit einer volljährigen Frau führt. Daraufhin verliess der Bruder 1996 die Gemeinschaft, um zu heiraten. Inzwischen ist die Frau verstorben. Er selbst ist geistig dement.
45 Jahre später
Abt de Pothuau konnte seit 2019 indes weitere Zeuginnen ausfindig machen, die von sexuellen Übergriffen ab Ende der 1970er-Jahren berichteten. Die Berichte betreffen insgesamt sechs Frauen. De Pothuau sagte am Montag vor den Medien:
Die drückende und paradoxe Last der Schuldgefühle, die die betroffenen Opfer äusserten, haben mir gezeigt, dass es unsere Pflicht ist, mehr zu tun.
Dies, auch wenn die Fälle alle bereits verjährt seien. «Für diese Frauen ist das Leiden immer noch gegenwärtig.» Und es sei anzunehmen, dass es noch weitere, bisher unbekannte Opfer gebe. Deshalb lanciere die Gemeinschaft nun einen Aufruf an alle Personen, die in den Jahren 1980–1990 die Abtei besucht hatten und etwas über mögliche Missbräuche wissen oder solche selber erfahren haben.
Hoffnung in die Medien
Vom Weg an die Öffentlichkeit erhofft sich der Abt viel. Die Verbreitung der Affäre Santier im Oktober 2022 in Frankreich über die Medien habe dazu geführt, dass sich weitere Opfer gemeldet hätten. «Allein die Veröffentlichung des Berichts der unabhängigen Kommission für sexuellen Missbrauch in der Kirche (Ciase), der zu einer Bestrafung des Geistlichen führte, hatte nicht gereicht», betont de Pothuau. Gleiches würde nach Ansicht des Abts auch in der Schweiz gelten.
Die von der Schweizerischen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit den Schweizer Ordensleuten in Auftrag gegebene Studie über Missbrauch im kirchlichen Umfeld wird sicher nicht ausreichen, um den Frauen von Hauterive die Möglichkeit zu geben, sich als Opfer erkennen zu geben, wenn die Abtei nicht selbst an die Öffentlichkeit tritt, um diese Vorkommnisse offen zuzugeben.
Der Fall Santier habe ihm gezeigt, dass der Weg an die Medien etwas bringe.
Lehren für den Orden
De Pothuau ist der Ansicht, dass die Wahrheitssuche auch wichtig für die Sensibilisierung des Ordens selber ist. «Es gibt keine effektivere Vorgehensweise, um sich mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs auseinanderzusetzen: einem Opfer zuhören, versuchen zu verstehen, was ihm widerfahren ist, zu erkennen, welche Unterlassungen es gab. Wir haben innerhalb der Gemeinschaft viel über Fragen von Autorität, asymmetrischen Beziehungen und über die Mediatisierung diskutiert. Die Zeit, die wir uns genommen haben, um heute an die Medien zu treten, war ein veritabler Reifeprozess.»
Fragen, wie jene des Zölibats beispielsweise, würden ebenfalls diskutiert. De Pothuau betont allerdings auch, dass die Mönche freiwillig in Altenryf seien. Aber klar müssten sie sich der Wahlfreiheit auch bewusst sein.
Was ich aber am schockierendsten finde, ist, dass sich jemand unter dem Mantel der Keuschheit Frauen annähert, um sich an ihnen zu vergreifen. Das ist skandalös.
Aufruf
Meldeoptionen
«Was können wir für die Frauen tun? Wie können wir sie ausfindig machen? Wir fühlen uns mitverantwortlich für das Vorgefallene und sind bereit, mit ihnen zusammenzukommen, wenn sie es wünschen und wenn nötig, mit ihnen einen Weg aus der Ausweglosigkeit zu suchen, in die sie einer unserer damaligen Mitbrüder gebracht hat», schreibt das Kloster Altenryf in seinem Aufruf. Betroffene könnten sich aber auch an die diözesane Kommission (Casce) unter 079 387 21 82 (casce@diocese-lgf.ch) oder an die unabhängige Kommission (Cecar), 077 409 42 62 (info@cecar.ch), wenden. rsa
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