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Karfreitag

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Das ist ein bezahlter Beitrag mit kommerziellem Charakter. Text und Bild wurden von der Firma Muster AG aus Musterwil zur Verfügung gestellt oder im Auftrag der Muster AG erstellt.

15 Jahre war ich und seit einem halben Jahr in einem Internat für Knaben im einsamen Lötschental. Maria Rat hiess das Internat und war darauf ausgelegt, junge Menschen zum Priesterberuf hinzuführen. Alles war streng strukturiert. Gebete zogen sich wie ein roter Faden durch unseren Alltag. Geweckt wurden wir mit einem Stossgebet, täglich Messe, Studium, Unterricht, Gebete beim Essen, am Mittag das Angelusgebet (wer kennt es noch?) und abends der Rosenkranz.

Es war Mittag, der Engel des Herrn war gerade dabei Maria eine Botschaft zu bringen (Angelus Domini nuntiavit Mariae), da schrillte das Telefon, laut und aggressiv zerstörte es unser frommes Beten. Der Pater Rektor verliess verärgert den Speisesaal, kam nach kurzer Zeit mit hochrotem Kopf zurück, schaute immer wieder zu mir und rief mich unmittelbar nach dem Essen in seine Klause. Dies kam eher selten vor, in der Regel nur, wenn Verwarnungen ausgesprochen wurden wegen Verstössen gegen die strenge Hausordnung. Ich war mir keines schweren Vergehens bewusst, weder hatte ich im Schlafsaal gesprochen, noch in der Kirche zu den Mädchen hinübergeschaut, noch Mitschüler in ihrer Zelle besucht.

Er hiess mich Platz nehmen und kam sogleich zur Sache: «Deine Eltern sind in Losone». Mein älterer Bruder absolvierte, nach dem erfolgreichen Abschluss der Lehre als Koch, die Grenadier-Rekrutenschule im Tessin. Ich freute mich über diese Nachricht, dachte ich doch, meine Eltern seien eingeladen zur militärischen Abschiedsvorstellung, wo die jungen Männer zeigen konnten, was sie in ihrer Ausbildung in der als Lebensschule für junge Männer bezeichneten RS gelernt hatten: Im Nahkampf Mann gegen Mann überleben, erstürmen von Häuserruinen mit Handgranaten, mit Flammenwerfern und aufgepflanztem Bajonett, sowie abends, im Ausgang die Grenzen der Trinkfestigkeit ausloten. Immer noch nichts ahnend, erkundigte ich mich, wie lange sie bleiben und ob ich auch eingeladen sei. Dann dieser Satz, ich höre ihn bis heute: «Dein Bruder ist tot»! «Tot???» «Er ist bei einer Marschübung gestorben». Vor mir tat sich ein grosses schwarzes Loch auf, ich fiel tief, unendlich tief, in eisige Kälte und Dunkelheit. Gefangen in dieser Kälte war ich sicher, dass alles nur ein böser Traum war, aus dem ich nur zu erwachen brauchte.

Erwachend lag ich am Boden, über mir der Rektor, mit der einen Hand stützte er meinen Kopf, in der andern hielt er ein Glas Wasser. «Du kannst selbstverständlich zur Beerdigung nach Hause gehen, die Eltern sind auch schon unterwegs und erwarten dich in Bern am Bahnhof». Wie in Trance packte ich meine Siebensachen, stieg in den Bus, in den Zug und fand meine Eltern am Bahnhof in Bern. Wir reichten uns die Hand, wagten uns kaum ins Gesicht zu schauen. Vater unterdrückte die Tränen, Mutter weinte und tadelte, warum ich nicht die besseren Kleider angezogen hätte. Auf dem Weg nach Hause sprachen wir nicht viel, der brennende Schmerz und die sinnlos gewordene Frage «warum» erstickten alle Worte.

Zu Hause warteten die Geschwister gemeinsam mit der Freundin des verstorbenen Bruders auf uns. Ihr Traum von der gemeinsamen Zukunft zerstört, noch bevor er beginnen konnte. Nun waren wir alle zusammen, einer fehlte. In einem Güterwagen kam er später an. Soldaten trugen ihn in unsere Stube. In Uniform war er gekleidet, auf dem Sarg die Schweizerfahne, sein Helm und das offene Bajonett, umrahmt von Blumen und Kränzen. Zwei Soldaten wachten, rund um die Uhr, über seinen Tod – Wer wachte über sein Leben?
Am Abend kamen die Leute aus dem Dorf und von weit her, zum «Spritzen», zum Beten, zum Trösten. Aber auch hochdekorierte Offiziere, goldbestreift, ja sogar goldbekränzt, drückten pflichtgemäss, mit versteinerter Miene, ihr Beileid aus. Wir waren tief beeindruckt, noch nie waren uns solch honorable Autoritäten so nah. Im wirklichen Leben gehörten sie wohl eher zu den «Mehrbesseren» und würden sich wohl kaum freiwillig in unsere Stube verirren. Doch nun standen sie vor uns und reichten uns sogar die Hand. Nur Mutter fühlte sich unwohl. Den unerträglichen Schmerz, den unersetzlichen Verlust vermochte das förmliche Zeremoniell auch nicht zu lindern.

Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, schlich ich in die Stube. Meistens sass Mutter schon dort, die Augen tränennass, die Finger der rechten Hand bewegten unablässig die Perlen des Rosenkranzes, die Lippen formten lautlos Gebete.

Es kam der Tag der Beerdigung, Soldaten trugen den Sarg zur Kirche, die Militärmusik spielte einen traurigen Marsch. Wir reihten uns hinter dem Sarg ein, auf ihm immer noch Fahne, Helm und blankes Bajonett. Es folgten die Kameraden, vorschriftsgemäss mit Stahlhelm und Sturmgewehr, dann Freunde, Verwandte, Bekannte. Das ganze Dorf schien auf den Beinen und teilte die Trauer mit uns. H.H. Pfarrer liess es sich nicht nehmen, die Messe höchstpersönlich zu zelebrieren. Mit erhabenen und frommen Worten dankte er den Eltern für die bedingungslose Ergebenheit in Gottes heiligen Willen und für das grosse Opfer, das sie auf dem Altar unseres Vaterlands dargebracht hätten. Ein Held sei der Sohn, und: «Sein Tod ist in den Augen des Glaubens nichts anderes als die Erfüllung der göttlichen Verheissung». Ich war wohl zu jung, um in solchen Aussagen einen tieferen Sinn oder gar Trost zu finden.

Es folgte der letzte Gang zum Grab. Es regnete, in der offenen Grube sammelten sich Pfützen. Fahne, Helm und Bajonett wurden eingesammelt, der Sarg senkte sich ins Grab. Plötzlich ein Schrei, Gewehre wurden geladen, noch ein Schrei und dreimal wurde ziellos in den wolkenverhangenen Himmel geschossen. Mutter, Vater, wir alle erschraken heftig. Warum um Himmels willen, ging es mir, in meiner jugendlichen Naivität, durch den Kopf, wird am Grabe meines Bruders geschossen, wo er doch in Frieden ruhen sollte (R.I.P.)? Ich schaute zum Himmel, er blieb verschlossen, die Kugeln schienen keinen weiteren Schaden angerichtet zu haben, weder Tauben noch Engel fielen ins offene Grab. Die Gewehre wurden wieder geschultert, wir reichten uns die Hände und nahmen endgültig Abschied. Die Kapelle spielte das Lied vom guten Kameraden, der Regen fiel wieder stärker.

Erst später fanden wir den Mut, Fragen zu stellen, und erfuhren, wie es so weit kommen konnte. Mein Bruder war Koch, stand die meiste Zeit in der Küche, bei diesem Eilmarsch musste aber auch die Küchenmannschaft mit Sack und Pack («Sturmpackung») ausrücken. War es mangelndes Training, dass er die Strapazen nicht ertrug?

Er fiel ein erstes Mal, man half ihm auf, und er marschierte weiter.

Er fiel ein zweites Mal, man nahm ihm Rucksack und Gewehr ab, und er marschierte weiter.

Er fiel ein drittes Mal und er marschierte nicht mehr weiter.

«Bewusstlos lag er am Rand der Strasse, bis die ganze Kompanie vorbeimarschiert war. Der Sanitätswagen, der vorschriftsgemäss der Kompanie folgte, nahm ihn dann mit.» (Originaler Zeitungsbericht und Aussagen von Kameraden). Ein Offizier bemühte sich, zu versichern, «dass sämtliche Reglemente eingehalten wurden».
Morgen ist Karfreitag. Viele von uns werden die Geschichte hören vom Menschensohn, der, zum Tode verurteilt, unter der Last des Kreuzes zusammenbrach. Soldaten trieben ihn an, ein Mann half, das Kreuz zu tragen und er marschierte weiter, zu seinem Tod.

Die Bilder des Kreuzwegs zeigen, wie er dreimal fiel. Dreimal, wie Wolfgang, mein Bruder. Und so drängen sich besonders an diesem Tag, Jahr für Jahr, die alten Bilder unaufhaltsam ins Bewusstsein zurück. Bilder, die ich glaubte, verarbeitet zu haben. In Wirklichkeit habe ich sie wohl nur verdrängt.

Und ja, nachdem ich erfahren hatte, was und wie sich alles zugetragen hatte, habe ich noch viel mehr Mühe mit Ausdrücken wie Heldentum, Opferbereitschaft und göttlicher Verheissung. Zu oft werden diese Worte missbraucht, um persönliches Versagen zu kaschieren, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Damals wie auch heute.

Ich wünsche allen einen besinnlichen Karfreitag.

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