Gastkolumne
Autor: Sus Heiniger
Passanten
Es braucht keinen Jahreswechsel, um jemanden zu beschenken oder den Menschen Glück zu wünschen.
Um die Weihnachtszeit kam mir der Schriftsteller Antonio Tabucchi in den Sinn, der menschliche Befindlichkeiten bildhaft reich zu erzählen vermag. Zu Sätzen oder blossen Satzfragmenten, die ihm auf Strassen zufällig zu Ohr kommen, spinnt er einen Geschichtsfaden weiter und erfindet so kurze Lebensbilder von Passanten.
Als bei uns die alljährliche Geschenk-Kauf-Stimmung ausbrach, waren sie vielfach da, die Sätze, die kurzen Momente des zufälligen Teilhabens an der Befindlichkeit eines vorbeigehenden Menschen. Sie zeigten auf: das Raten und Leiden, die Suche nach den high-machenden Geschenken hatte begonnen. Viele wünschen sich, es wäre ein Leichtes, einen Menschen, den man liebt, zu beschenken. Mit einem Etwas, das ihn, wenn nicht für längere Zeit, doch zumindest für einen Augenblick glücklich machen würde.
So strömen die Tage und die Menschen in die Kaufhäuser und wieder hinaus. Einige haben dann ein Geschenk gekauft. Ein Etwas, das schon als solches bezeichnet und angeboten, dem Käufer wohl die Sicherheit geben soll, wirklich das Richtige erstanden zu haben, eben «DAS Geschenk». Und doch … was es auch sei, es könnte immer noch falsch sein. Wer weiss denn, ob das gute Gefühl, das Glück, direkt auszulösen ist?
Könnte man auch sich selber beschenken, um es herauszufinden? Beispielsweise eine lange Zeit unter dem Baum, der so duftet, hin und her gehen? Mit dem Kind die Butter blau färben fürs Frühstück? Spontan einen Menschen ins Herz schliessen und ihn wieder freilassen? Oder einfach ab und zu sich sagen, alle Tage zwischen meiner Geburt und meinem Tod gehören mir. Ein Geschenk. Ich allein verantwortlich für meine Biografie, meine Gedanken, meine Taten.
Es ist ein Spiel, das ich manchmal spiele, wenn ich in einer grossen Stadt bin, wenn ich wohl etwas lange für mich allein war und so wieder an das Aussenleben andocken möchte. Ich gehe herum und sammle Blicke. Oft braucht es Mut, in fremde Gesichter zu schauen, in geordnete und ungeordnete, in verschlossene und offene, manchmal gelingt es leichter. Jedesmal habe ich aber nach einer gewissen Sammelzeit das Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein, in einer blitzkurzen Gleichzeitigkeit eines gemeinsamen Lebensmoments. Wie kurz mitgehörte Sätze, Worte. Ich bilde mir ein, alle suchen fortwährend das gute Gefühl, alle suchen fortwährend das Glück. Und es darf mich nicht erschüttern, dass immer etwas fehlt.
Ein Kleid, eine Banknote, ein Geständnis, eine Stimmung … So ist die Vorstellung vom Glück immer mit dem Kommenden verbunden. Mit einem Geschenk, das eintreffen wird. So ist das Glück mit der Distanz verbunden, und wir schieben es vor uns her, scheinen es nie zu bekommen. Die Sehnsucht nach der Welt, in der man mittendrin ist. Die Welt, die auch beschenkt ist – mit uns! Mit liebenswerten, bescheidenen, ausgebildeten, eingebildeten, bewundernswerten, hochentwickelten Verrückten, die es nicht aufgeben, das gute Gefühl zu suchen und zu verschenken.
Mein Geschenk an dich: Du bist, was du denkst.
Sus Heiniger ist Kunstmalerin und lebt in Murten. Als Kulturschaffende ist sie in einem FN-Kolumnistenkollektiv tätig, das in regelmässigem Rhythmus frei gewählte Themen bearbeitet.