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Perlmans Satz

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Das ist ein bezahlter Beitrag mit kommerziellem Charakter. Text und Bild wurden von der Firma Muster AG aus Musterwil zur Verfügung gestellt oder im Auftrag der Muster AG erstellt.

Kolumnisten – ich eingeschlossen – fallen gern über die Schwächen anderer her. Ich möchte da einmal eine Ausnahme machen und über eine ganz persönliche Charakterschwäche schreiben. Sie heisst Neid.

 

Kürzlich habe ich Daniel Barenboim Beethovens Mondscheinsonate spielen hören. Wie schön muss das Leben sein, habe ich–blass vor Neid–gedacht, wenn man die Klaviertasten so zärtlich streicheln und dabei solche Töne erzeugen kann! Ich sehe, wie junge, lebensfrohe Menschen zusammen schäkern, und falle augenblicklich in eine Altersmelancholie. Ich höre den alten Benediktinermönch David Steindl Rast und beneide ihn um seine weise Gelassenheit. Ich lese in der Zeitung von begehrten, gut aussehenden Schauspielern oder von schlecht aussehenden Millionären, die trotzdem begehrt sind: Schauspielern gehört nicht zu meinen Stärken, und trotz allen Sparanstrengungen werde ich es wohl nie zum Millionär bringen.

 

Letzthin habe ich einem überaus geschickten Handwerker bei der Reparatur unserer Waschmaschine über die Schulter geschaut. Wenn ich einen Hammer in die Hand nehme, stehen die Chancen, dass ich den Nagel oder meinen Finger treffe, ungefähr bei 50:50. «Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes oder gar keins.» Falsch, dieser Satz stammt nicht von Michael von der Heide, sondern vom grossen Dichter Heinrich von Kleist, den ich um fast jeden seiner Sätze beneide.

 

Die Welt ist gemein, jeden Tag pustet sie in die Glutkörner meines Neids, jeden Tag stellt sie mir Menschen vor die Sonne, die etwas können, was ich nicht kann, oder die etwas, was ich ein bisschen kann, viel besser können. Lorenz Marti–auch so einer, den ich um seine schlichte Erzählkunst beneide–berichtet, dass dem grossen Geiger Itzhak Perlman bei einem Konzert in New York bereits nach den ersten Akkorden eine Saite gerissen sei. «Es wurde ganz still im Saal. Perlman wartete, schloss für einen Moment die Augen und bat dann den Dirigenten, nochmals zu beginnen. Das Orchester setzte ein, und der an Polio erkrankte Geiger spielte mit so viel Leidenschaft und Hingabe, dass sich das Publikum am Schluss erhob und minutenlang applaudierte. Es soll eines seiner besten Konzerte gewesen sein», so Marti. Obwohl es eigentlich unmöglich ist, ein Violinkonzert auf bloss drei Saiten zu spielen, wollte sich Itzhak Perlman dieser Unmöglichkeit nicht beugen. Nach dem Applaus meinte der Stargeiger zum staunenden Publikum: «Wissen Sie, manchmal ist es die Aufgabe eines Künstlers, herauszufinden, wie viel Musik man noch machen kann mit dem, was einem übrig geblieben ist.»

 

Diese Geschichte hat mich berührt. Plötzlich wusste ich nicht mehr, welches Gefühl in mir die Oberhand hatte: der Neid auf den genialen Geiger oder das Mitleid mit dem körperlich versehrten Menschen. Genauso geht es mir mit dem begnadeten, aber unglücklichen Dichter des «Zerbrochenen Krugs», der mit 34 Jahren Hand an sich legte. Und als ich mit dem geschickten Handwerker nach der Reparatur der Waschmaschine in ein vertrauliches Gespräch kam, erzählte er mir, dass ihn seine Frau mit zwei schulpflichtigen Kindern habe sitzen lassen. Der Philosoph Richard Mervyn Hare hat Glück als den Zustand desjenigen bezeichnet, mit dem wir bereit wären zu tauschen. Wenn ich innerlich die Galerie all der beneidenswerten Menschen mit ihren genialen Vorzügen abschreite, bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich überhaupt mit einem von ihnen tauschen möchte. Zweifellos passen all meine Unvollkommenheiten zu niemandem besser als zu mir, weil es ganz einfach meine Unvollkommenheiten sind.

 

«Herausfinden, wie viel Musik man noch machen kann mit dem, was einem übrig geblieben ist.» Vielleicht sollte ich Perlmans Satz einrahmen und als psychologisches Heilmittel gegen meine Neidanfälligkeit an die Wand hängen. Zu diesem Zweck müsste ich zuerst einen Nagel einschlagen. Aber ach ja, Handwerker sollte man sein!

 

Hubert Schaller unterrichtet Deutsch und Philosophie am Kollegium St. Michael. Er ist unter anderem Autor der Gedichtbände «Trommelfellschläge» (1986) und «Drùm» (2005). Als Kulturschaffender ist er in einem FN-Kolumnistenkollektiv tätig, das in regelmässigem Rhythmus frei gewählte Themen bearbeitet.

«Die Welt ist gemein, jeden Tag pustet sie in die Glutkörner meines Neids.»

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