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Putin und die «Grosse Göttin»

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Zu den sonderbaren Nebeneffekten des Ukraine-Kriegs gehört die Tatsache, dass er den Duden um ein fragwürdiges Wort bereichert hat: «Putinversteher». Damit sind Leute gemeint, die für den Kremlchef Sympathien hegen, die seinem politischen und militärischen Kurs Verständnis entgegenbringen, ihm möglicherweise sogar Beifall zollen. Ich glaube, dass man Wörter demütigen kann, indem man sie in einen sinnfremden Zusammenhang stellt. «Putinversteher» ist so ein Wort für mich. Warum nicht einfach Putinanhänger, Putinfan oder meinetwegen Putinverehrer. Aber Putinversteher! Verstehen – im Sinn von «erklären» – kann man vieles. Das ist zum Beispiel das tägliche Brot von Historikerinnen und Historikern. Aber Verständnis haben …!

«Verstehen» hatte für mich bis jetzt eine ausnahmslos positive Bedeutung. Schliesslich sind wir doch alle neun oder mehr Jahre zur Schule gegangen, um genau das zu tun: verstehen zu lernen. Zum Beispiel, dass die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad beträgt oder dass die DNA-Sequenz von Menschen und Schimpansen zu 99 Prozent identisch ist oder dass Kriege regelmässig mit Verhandlungen enden (weshalb schwer zu begreifen ist, warum nicht vorher verhandelt wird).

«Etwas verstehen», das heisst die Gründe ermitteln können, warum etwas so ist, wie es ist, und «jemanden verstehen», das heisst ihm oder ihr Verständnis entgegenbringen, stehen in einem unklaren Zusammenhang. Oftmals ergibt sich das Letztere aus dem Ersteren. Doch manchmal ist Nichtverstehen, im Sinne von Nicht-einverstanden-Sein, Pflicht. Zum Beispiel, wenn einer ein unschuldiges Land in Schutt und Asche legt und junge Männer, eigene und fremde, zu Tausenden auf die Schlachtbank führt!

Wenn es mit den Putinverstehern getan wäre … Aber da gibt es ja noch die Trumpversteher, die Bolsonaro-, Orban-, Xi-Jiping-Versteher und wie sie alle heissen, diese despotischen Finsterlinge der Macht.

Nichts Neues unter der Sonne, werden Sie jetzt vielleicht denken. Schliesslich gab es das ja schon immer, sogar in viel grässlicherem Ausmass: Wo ein Führer, da die Verführt-sein-Wollenden. Wo ein Lügner, da die Belogen-sein-Wollenden. Wo ein Kriegstreiber, da die Morden-Wollenden. Denken wir nur an all die Hitler-, Stalin- und Pol-Pot-Versteher. Bloss, wollen wir uns wirklich mit den für überwunden geglaubten Ungeheuerlichkeiten der Vergangenheit über die Ungeheuerlichkeiten der Gegenwart hinwegtrösten?

Der Impfstoff gegen das Coronavirus ist da, aber wer erfindet einen Impfstoff gegen das Virus, das sich in den Gehirnen ausbreitet, das Virus des Hasses und der Gewalt, das Virus der Lüge, der allgegenwärtigen Propaganda, der Niedertracht? Wer erklärt uns den neu erwachten Faschismus in Italien und anderswo? Wer weiss, wie Menschen ticken, die eine Frau zu Tode prügeln, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen hat? Wer kriegt es auf die Reihe, dass die Angst vor einem Atomkrieg wieder eine handfeste Ursache hat?  

Was wir brauchen, sind nicht Putinversteher, sondern Weltversteher. Menschen, die uns die Absonderlichkeit jedes Krieges vor Augen führen. Einen blinden Seher wie Teiresias*, der eine Wirklichkeit zu deuten versteht, die uns zunehmend über den Kopf wächst.

Etwas läuft schief in der Welt. Nein, viele Dinge laufen gleichzeitig schief, und wir sind mit unserer Schulweisheit am Ende.

In einem vielsagenden Gedicht lässt Hans Magnus Enzensberger die «Grosse Göttin» auftreten: «Sie flickt und flickt, / über ihr zerbrochenes Stopfei gebeugt, / ein Fadenende zwischen den Lippen. / Immer neue Laufmaschen, neue Löcher. / Manchmal nickt sie ein, / nur einen Augenblick, / ein Jahrhundert lang. / Mit einem Ruck wacht sie auf / und flickt und flickt. / Wie klein sie geworden ist /», konstatiert Enzensberger in der Schlussstrophe: «klein, blind und runzlig! / Mit ihrem Fingerhut tastet sie / nach den Löchern der Welt / und flickt und flickt.»

Bleibt die Hoffnung, dass sie nicht wieder in einen Jahrhundertschlaf versunken ist, die «Grosse Göttin», und dass sie mit Flicken, Flicken nachkommt …

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