Patrick Scherler, Verantwortlicher für die Feldarbeit beim grossen Rotmilan-Projekt der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, kommt zu spät zum Gesprächstermin. Er hat aber eine gute Entschuldigung: Zusammen mit dem Freiburger Rotmilan-Experten Adrian Aebischer wurde er just an diesem Morgen zur Pflegestation des Naturhistorischen Museums Freiburg gerufen. Zwei kranke Rotmilane, ein Jungtier und ein ausgewachsener Vogel, sind dort aufgepäppelt worden und nun bereit, in die Freiheit entlassen zu werden.
Der etwa zwei Monate alte Jungvogel war vor einigen Wochen in der Nähe von Heitenried am Boden gefunden worden, völlig entkräftet und halb verhungert. Der ältere Rotmilan war in eine Fensterscheibe beim Schloss Heitenried geflogen und hatte dabei wohl eine Gehirnerschütterung erlitten.
Mit etwas menschlicher Starthilfe erheben sich beide Vögel von einer Wiese in der Nähe von Selgiswil mit kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte und verschwinden kurz darauf im nahen Wäldchen. «Ich habe ein gutes Gefühl», sagt Adrian Aebischer, als er dem Jungtier nachschaut.
Rasant zugenommen
Nicht die Wiederauswilderung verletzter Rotmilane steht im Mittelpunkt des Forschungsprojekts, das 2015 angefangen hat und insgesamt sechs Jahre dauern soll. «Wir betreiben Grundlagenforschung», erklärt Patrick Scherler. «Wir wollen herausfinden, welche Voraussetzungen notwendig sind, damit sich Rotmilane ansiedeln; warum und wie sie sich ausbreiten.»
Im Gegensatz zu manchen Populationen in den traditionellen Hauptverbreitungsgebieten in Spanien, Frankreich und Deutschland hat die Zahl der Rotmilane in der Schweiz in den letzten 40 Jahren rasant zugenommen. Hier leben heute fast zehn Prozent der Weltpopulation. «Für einmal müssen wir nicht notfallmässig Forschung betreiben, weil eine Art am Aussterben ist, sondern dürfen untersuchen, warum es einer Art bei uns gut geht.»
Freiburg gut erforscht
Auch das Forschungsgebiet hat die Vogelwarte nicht zufällig gewählt. Denn der Kanton Freiburg, insbesondere der Sensebezirk, ist eine der am dichtesten vom Rotmilan bevölkerten Regionen. Zudem ist das Gebiet Freiburg-Waadt dank einer Gruppe von freiwilligen Ornithologen seit 20 Jahren bereits gut erforscht. Sie haben die Tiere regelmässig gezählt und im Laufe der Zeit rund 850 junge Rotmilane im Nest beringt.
Auf diese Weise konnte zwar die Entwicklung des Bestandes gut beobachtet werden. Unklar ist jedoch, warum es den Vögeln in dieser Region so gut gefällt: Ist es das Klima, das Nahrungsangebot oder der Umstand, dass immer mehr Privatpersonen die Tiere gezielt mit Schlachtabfällen füttern? Wohin fliegen ausgewachsene Tiere? Wann treten sie in der kälteren Jahreszeit den Weg ins Überwinterungsgebiet Spanien an und warum bleiben einige hier? Diese und andere Fragen sollen geklärt werden.
Hightech im Vogelnest
Durch die moderne Technik werde das Beobachten dieser Art heute einfacher, sagt Biologe Adrian Aebischer. Vom Ausgangspunkt des Forschungsteams–einer Wohnung im Dorfzentrum von Schmitten–sind im Frühling ein Dutzend Forscherinnen und Forscher und freiwillige Helfer in das 380 Quadratkilometer grosse Gebiet ausgeschwärmt, um potenzielle Nester von Rotmilanen zu suchen. Sie statten sie mit einer Webcam aus, beobachten die Jungvögel in der sensiblen Phase nach dem Schlüpfen mit dem Feldstecher aus der Ferne und warten den richtigen Moment ab, um den Baum hochzuklettern und den Jungtieren einen leichten, solarbetriebenen Sender anzulegen. Die leistungsstarke Technik sendet übers Mobilfunknetz jede Stunde Daten über den Standort der Vögel und speichert damit deren Bewegungen.
Im Pilotjahr sind 44 Jungvögel aus 31 Nestern mit Sendern ausgerüstet worden, dieses Jahr waren es schon 105 Jungvögel. Nicht immer ist diese Arbeit erfolgreich: Manchmal wählen die Rotmilane nicht die mit Kameras ausgerüsteten Nester, manchmal bleiben die Nistplätze unauffindbar oder das Junge stirbt schon früh. «Die Sterblichkeitsrate im ersten Jahr liegt bei 50 Prozent. Nach drei Jahren sinkt sie auf 20 Prozent», erklärt Adrian Aebischer, der dem Rotmilan 2009 ein Buch gewidmet hat.
Eine Unmenge von Daten
Mithilfe von satellitengestützten Ortungssystemen fahren die Forscher den Rotmilanen nach und spüren sie mit Handortungsgeräten auf. «Um die vielen Daten runterladen zu können, muss der Vogel eine Weile an einem Ort sitzen oder über einer Stelle kreisen», erklärt Lorenz Achtnich. Er hat die letzten sechs Monate als Zivildienstleistender beim Forschungsprojekt mitgearbeitet und dabei eine spannende Zeit gehabt. In der Wohnung in Schmitten arbeiten Biologen im Rahmen des Projekts an ihrer Master- und Doktorarbeit und untersuchen die verschiedensten Aspekte im Leben eines Rotmilans. Die ersten zwei Projektjahre sind von der Vogelwarte Sempach finanziert worden, für die weitere Projektdauer ist ein Finanzierungsgesuch beim Nationalfonds gestellt. Das Gesamtprojekt kostet rund 1,5 Millionen Franken.
Neben der Arbeit draussen in Wald und Wiese gehört logischerweise auch jene am Computer dazu, zum Beispiel das Auswerten der Webcams: Minutiös halten die Forscher fest, wie oft Vater Rotmilan mit welcher Art von Futter kommt und wie oft die Jungtiere mit ersten Flugübungen die Muskeln ihrer Schwingen stärken. «Es sind mehrere Festplatten voll von Daten», so Lorenz Achtnich.
Dabei haben die Forscher bereits einige überraschende Erkenntnisse gewonnen, zum Beispiel, wie vielseitig der Speiseplan des Rotmilans ist. Neben Mäusen und Fröschen brachte das Elterntier einen grossen Anteil Abfälle ans Nest: Spaghetti, Brot und sogar Würste.
Der solarbetriebene Minisender hilft bei der Ortung der Tiere.Um die Daten runterzuladen, fahren die Forscher den Vögeln nach.
«Für einmal müssen wir nicht notfallmässig Forschung betreiben, weil eine Art am Aussterben ist.»
Patrick Scherler
Leiter Feldforschung Rotmilan-Projekt
«Die Sterblichkeitsrate im ersten Jahr liegt beim Rotmilan bei 50 Prozent.»
Adrian Aebischer
Rotmilan-Experte
Zahlen und Fakten
Ein ausgezeichneter Segelflieger
Der Rotmilan ist nach Bartgeier und Steinadler der drittgrösste Greifvogel der Schweiz. Er steht auf der Liste der 50 Prioritätsarten für Artenförderung in der Schweiz. 2009 zählte man rund 1500 Brutpaare, heute dürften es weit mehr sein. Der Rotmilan ist eigentlich ein Zugvogel, aber bereits 3000 Rotmilane bleiben vor allem in milden Wintern hier. Auf majestätische Art gleitet er im Segelflug stundenlang über Felder und Wiesen. Der Vogel ist gut erkennbar an seinem langen schmalen Gabelschwanz, den grossen weissen Flecken an der Unterseite der Schwingen und der rotbraunen Brust.im