Autor: Aldo Fasel
«Wilde Jagd» ist der Titel dieses ungewöhnlichen Buches, das ein Heimatroman der ganz anderen Art ist und so gar nicht ins Klischee dieser Gattung passen will. «Wilde Jagd» ist gemäss Lexikon «eine Horde von Geistern, die bei Sturm über den Himmel ziehen und Seelen, wie sie selbst sind, suchen. Die Wilde Jagd gilt als Vorbote des Unheils. Die geisterhafte Wilde Jagd erscheint den Verfluchten oder vom Schicksal Auserwählten manchmal in deren Albträumen.»
Lebensgeheimnisse
Doch ist «Wilde Jagd» kein Geister- oder Sagenbuch. Der Titel hat eine andere Bedeutung. Je weiter der Leser sich in die Lektüre vertieft, desto deutlicher wird ihm, welches Lebensgeheimnis die Erwachsenen auf dem Hof miteinander teilen. Das Leben der Bergbewohner ist von harter Arbeit, von Ritualen und Brauchtum bestimmt, auch wenn auf dem Feld Traktoren, im Stall computergesteuerte Melkmaschinen und in der Küche ein Mikrowellenherd das Leben etwas erleichtern. Keine Rede von ländlicher Idylle.
Der Autor porträtiert einen sensiblen jungen Mann: Emmeran, der sich lieber um die Tiere kümmert und allein draussen im Holz arbeitet, statt viel zu reden. In seiner Freizeit gibt er den ländlichen Dämonen Gesichter, indem er behörnte Holzmasken schnitzt – bis er durch den möglicherweise folgenschweren Unfall von Johannes plötzlich aus der Bahn geworfen wird. Schuld und Sorgen treiben ihn um.
Das Schweigen brechen
Ausgerechnet eine Städterin, Katja, ist es, die den verstockten Bergleuten Wege weist, die verfahrene Situation zu überwinden, die ihnen hilft, ihr Schweigen endlich zu brechen, sich von den erstarrten Strukturen und festgefahrenen Lebensweisen zu befreien.
Zwei meisterhaft ineinander verflochtene Handlungsstränge beherrschen den Roman bis zum Schluss. Der trübseligen Gegenwart stellt Müller Geschehnisse aus der Vergangenheit gegenüber, die so manche Verhaltensweise erklären.
Der Hinweis auf die grandiose Sprache des Autors darf auf keinen Fall fehlen. Der Autor verfügt über eine Wortgewalt und über ein Einfühlungsvermögen in die Protagonisten, die ihresgleichen suchen. Allein seine bildhafte, zuweilen fast poetische Sprache lohnt die Lektüre der Wilden Jagd.
Christian Lorenz Müller: «Wilde Jagd». Hamburg, Hoffmann und Campe, 2010.
Aldo Fasel ist Leiter der Volksbibliothek Plaffeien-Oberschrot-Zumholz.