Sprachenjungle
Wenn ich am Morgen aufstehe, denke ich zuerst auf Deutsch. Dass es viel zu früh ist zum Aufstehen. Dann träum ich weiter auf Deutsch, bis mein Vater das Radio aufdreht und ich die deutschen Nachrichten höre. Jetzt erst wache ich richtig auf. Hab ich mich schliesslich gewaschen, angezogen und gegessen, verabschiede ich mich auf Deutsch und renne zum Bus. Wenn ich die Tür hinter mir schliesse, beginnt der Sprachen-
jungle.
An der Bushaltestelle fragt mich jemand – auf Französisch -, wie man ein Ticket zum Bahnhof wählt. Ich versuche mit meinem besten Schulfranzösisch zu erklären, wie das geht. Hat er mich verstanden? Als dann der Bus kommt, sitze ich neben zwei Mädchen, die auf Französisch über die Schule motzen und gleichzeitig ihre Biologieaufgaben auf Deutsch erledigen. Sie passieren die Grenze zwischen Deutsch und Französisch ebenso mühelos und selbstverständlich, wie der Bus soeben den so genannten «Röstigraben» überquert. Ich bewundere immer wieder die Menschen, die auf Französisch denken und auf Deutsch reden können oder auch umgekehrt.
Warum bin ich eigentlich nie zweisprachig geworden? Ich bin doch in einem mehrheitlich französischsprachigen Quartier aufgewachsen, hab mit französisch Sprechenden cache-cache gespielt. Und trotzdem, wenn ich heute zur französischen Nachbarin babysitten gehe, korrigiert mich ihre siebenjährige Tochter: «Non, Simone, on dit une petitE fille!»
Letzthin versuchte ich der Zweisprachigkeit wieder einen Schritt näher zu kommen, indem ich mein Schwerpunktfach auf Französisch wählte. Bald jedoch verlor ich den Mut und gab auf. Wenn ich nun erwähne, dass «Arts visuelles» mein Schwerpunkfach ist, werden sicher viele denken, dass die Sprache hier nur sekundär sei und in erster Linie das Zeichnen im Zentrum stehe. Nun – ehrlich gesagt – habe ich das auch gedacht, doch als ich dem Lehrer mein Bild erklären sollte, war ich mit meinem bescheidenen Wortschatz schlicht verloren. Und als der Zeichnungslehrer versuchte, mein Bild zu interpretieren, konnte ich nur blöd nicken, obwohl er meine Zeichnung ganz anders verstand als ich. Dann merkte ich, dass ich mich nur wohl fühle in meiner Sprache, wenn ich mich wehren kann, wenn jedes Wort stimmt.
Bin ich die Einzige, die sich manchmal ausgeliefert fühlt, wenn ich von der vertrauten Muttersprache in die fremde Sprache wechseln muss? Bin ich die Einzige, die im Laden jedes Regal durchsuchen muss, nur weil ich nicht weiss, wie das Gewünschte auf Französisch heisst? Oder die plötzlich ganz leise spricht, wenn sie etwas auf Französisch sagen muss?
Aber da sind auch immer wieder diese Momente, wo ich es schaffe, die Brücke über den «Röstigraben» zu überqueren, zwar stolpernd und immer einen Schritt hinter den andern. Und das sind dann die Momente, wo ich stolz in der Deutschschweiz erzähle: «… ich komme aus Freiburg, dem Kanton, wo man die Sprachgrenze spielend leicht überwindet.»
*Simone Flüeler (16) wohnt in Freiburg und besucht das Gymnasium St. Michael. Den Versuch, ihr Schwerpunktfach auf Französisch zu belegen, gab sie entmutigt auf. Seither versucht sie auf anderen Wegen, dem Französisch näher zu kommen. Simone Flüeler ist Mitglied einer FN-Autorengruppe, die im Monatsrhythmus frei gewählte Themen zur Zweisprachigkeit bearbeitet. Der Inhalt der Kolumne braucht sich nicht zwingend mit der Meinung der Redaktion zu decken.
Von SIMONE FLÜELER