Wort zum Sonntag
Autor: Hans Ulrich Steymans
Strukturen des Habens und Hoffnung auf Solidarität
Als der tschechische Präsident Vaclav Klaus den Vertrag von Lissabon unterschreiben sollte, zögerte er und verlangte Garantien, dass die 1945 vertriebenen Sudetendeutschen keine Besitzansprüche auf damals enteignete Habe stellen.
Eine ähnliche Situation prägte die persische Provinz Jehud mit ihrer Hauptstadt Jerusalem im 5. Jh. v. Chr. Nehemia und Esra waren von der persischen Regierung beauftragt, ein Gemeinwesen zu ordnen, in dem geschah, was Vaclav Klaus fürchtet. Menschen, die über ein halbes Jahrhundert zuvor ihre Habe verloren hatten, weil sie von Juda nach Babylon deportiert worden waren, kamen zurück und forderten diese – gewaltsam – von jenen zurück, die sie in Besitz genommen hatten. Wie soll das Gottesvolk diese Zerreissprobe bestehen?
Esra nimmt Zuflucht zur Tora. Neh 8,2f.8f verwendet dafür das Wort «Gesetz». Tora bedeutet in Wirklichkeit «Weisung»: «Anweisung Gottes» für eine gerechte Gesellschaft. Anweisungen zu bekommen, gefällt nicht jedem, vor allem, wenn diese Anweisungen das Öffnen der Strukturen des Habens zugunsten einer Solidarität mit anderen fordern. Das ist der Inhalt der Tora. Und das Volk weint, als es die Anweisungen hört. Wahrscheinlich liest Esra das Deuteronomium vor. Dieses Buch nennt sich selbst Tora, und man liest es auf Hebräisch in drei Stunden. Das stimmt mit der Zeitangabe für die Bibellese in Neh 8,3 überein, weil die Erklärungen sie verdoppeln.
Die Bibellese löst Traurigkeit und Weinen aus (Neh 8,9). Das Deuteronomium formuliert in grösster Eindringlichkeit Forderungen an das Gottesvolk (Dtn 27,9f.15.19.25f). Gott fordert Loyalität ihm gegenüber (Dtn 6,5) und Solidarität der Gemeinschaft gegenüber (Dtn 10,18; 14,29 15,4.7.9.11; 24,14-21; 26,12f). Forderungen anzuerkennen, bedeutet, die inneren Palisaden einreissen zu lassen, mit denen man schützt, was man hat, seine Selbstbestimmung, seinen Besitz, seine Vorstellungen von erfülltem Leben. Gott ergreift Partei für die Armen, weil er aus dem Sklavenstatus befreit (Dtn 5,6.15). Die Armen sehnen sich von Natur aus mit ganzer Seele nach einer heilvollen Ordnung, während die Wohlhabenden Gerechtigkeit für alle nur fürchten können. Deshalb weinen die Wohlhabenden. Sie müssen zur Solidarität und zur Freude aufgefordert werden (Neh 8,10; Dtn 16,11.14).
Heute weinen die Opfer von Überschwemmungen in Bangladesh, von Taifunen auf den Philippinen, von verkürzter Regenzeit in der Sahelzone. Werden die habenden Nationen sich den Anforderungen der Klimagerechtigkeit öffnen?
Der Dominikaner Hans Ulrich Steymans ist Professor für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Universität Freiburg (Schweiz) und lebt im Kloster St. Hyazinth in Freiburg.