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«Viele Ärzte kennen Polio nicht mehr»

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Es fühlte sich an wie eine normale Grip-pe. Kopfweh, Gliederschmerzen.» Mit ruhiger Stimme erzählt die 1946 in Sevelen im Kanton St. Gallen geborene Annemarie Grebasch von ihrer Kindheit. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Blatt mit Notizen, dennoch hält sie ab und zu inne, überlegt, wie es denn wirklich war. Die Grippe wurde nicht besser. «Nach zwei Tagen habe ich meine Beine nicht mehr gespürt, konnte nicht mehr aufstehen. Da hat meine Mutter den Arzt geholt.» Dieser habe sofort reagiert und sie ins Regionalspital gebracht, zusammen mit ihrem Vater, ihrem Bruder und vier weiteren Kindern aus dem Dorf: Sie alle hatten sich mit Poliomyelitis, deutsch auch Kinderlähmung, angesteckt (siehe auch Kasten).

Während ihr Bruder zwar hohes Fieber hatte, aber ohne Lähmungserscheinungen davonkam, griffen die Viren bei ihrem Vater die Atemmuskulatur an. Nach zwei Tagen starb er. Die damals siebenjährige Annemarie Grebasch kam nach St. Gallen in die Isolationsstation, wo sie vier Monate lang bleiben musste. Mit Massagen, Übungen und Wärmetherapien versuchten Ärzte und Krankenschwestern, ih- re angegriffene Oberschenkelmuskulatur zu aktivieren–ohne Erfolg: Ihr rechter Oberschenkel ist auch heute noch stark unterentwickelt.

Wer von Annemarie Grebasch eine herzzerreissendeGeschichte erwartet hatte, wirdenttäuscht. «Die Rückenmarkpunktionen taten weh, aber die Ärzte und Krankenschwestern kümmerten sich sehr gut um uns», sagt sie zum langen Klinikaufenthalt; und auf die Frage, wie stark sie ihre Behinderung beeinträchtigte, meint sie: «Ich konnte nicht so weit laufen wie die anderen. Aber ich war froh, brauchte ich keine Schiene. Und tanzen, das konnte ich», fügt sie mit einem breiten Lachen an.

Auch bei ihrer Arbeit als Drogistin oder in der Familie habe sie sich nie benachteiligt gefühlt, sagt die Rentnerin, die mit ihrem Mann seit 34 Jahren in Wünnewil wohnt und immer noch einen Tag pro Woche arbeitet. «Für den Mann und die Kinder war klar: Manche Sachen kann das Mami machen, andere halt nicht.»

«Alle Stehaufmännchen»

Vergleiche sie sich mit anderen Polio-Patienten in ihrem Alter, gehe es ihr sehr gut, sagt Annemarie Grebasch. Manche ihrer Bekannten litten nun unter den Spätfolgen der Krankheit, dem sogenannten Post-Polio-Syndrom, und zeigten starke Muskelschmerzen, Atembeschwerden oder gar neue Lähmungserscheinungen. «Auch bei mir fängt es langsam an mit Muskelschmerzen.» Im Gegensatz zu manchen anderen Post-Polio-Patienten habe sie aber eine verständnisvolle Ärztin, die sich über das Syndrom informiert habe und ihr nun Physiotherapie verschreibe. «Viele Ärzte wissen nicht mehr, was Polio überhaupt ist, und nehmen die Patienten nicht ernst.» Angst habe sie dennoch keine. «Von uns Polio-Patienten ist kaum jemand pessimistisch, wir sind alle Stehaufmännchen, die sich eher zu viel zumuten.» Dass dies nicht immer gut sei und ihr Körper etwas mehr Ruhe brauche als bei anderen, habe sie nach und nach lernen müssen, sagt Annemarie Grebasch, die nicht nur den Jahrgängerverein präsidiert, sondern auch lange im Vorstand der örtlichen FDP und in der Schulkommission sass. «Ich musste lernen, dass ich auch mal Hilfe annehmen kann. Und ich musste mir sagen: Morgen ist auch noch ein Tag.»

Zur Krankheit

Spätfolgen nach 30 Jahren sind möglich

DiePoliomyelitis, deutsch auch Kinderlähmung, ist eine Infektionskrankheit, die durch Polio-Viren ausgelöst wird. Übertragen werden kann die Krankheit durch Schmierinfektion, zum Beispiel durch schmutzige Hände oder Wasser, sowie durch Tröpfcheninfektion beim Husten, Sprechen oder Niesen. Etwa ein Prozent der Infizierten entwickelt das klassische Bild der Kinderlähmung, bei dem sich binnen StundenLähmungenentwickeln. Diese können sich innerhalb eines Jahres zurückbilden oder auch bestehen bleiben. Eine Infektion kann auch tödlich enden. Eine spezifische Behandlung der Krankheit gibt es nicht. Die einzige Möglichkeit, sich vor der Krankheit zu schützen, ist eineImpfung. Jahrzehnte nach der Krankheit kann sich dasPost-Poliomyelitis-Syndromentwickeln. Müdigkeit, Schmerzen oder Muskelschwäche- oder -schwund sind typische Symptome. Dabei kann die erneute Muskelschwäche sowohl in bereits polio-befallenen als auch in früher nicht befallenen Muskeln auftreten. Für die Erkrankung gibt es verschiedene Erklärungsmodelle. Diese sind aber alle hypothetischer Natur. Auch gibt es kein Heilmittel. ZurBehandlungempfehlen sich Ausdauertraining, Muskelkräftigung, Wassertherapie und ein schonender Lebensstil. Während zur Kinderlähmung selbst genaue Daten vorliegen, verfügen weder das Bundesamt für Statistik noch die Invalidenversicherung über verlässliche Zahlen zu den Betroffenen des Post-Polio-Syndroms.rb

Vereinigung: Auch nach 75 Jahren noch viel zu tun

D ie Schweizerische Vereinigung der Gelähmten ASPr-SVG, die seit 1991 ihren Sitz in Freiburg hat, feiert dieses Jahr ihr 75-jähriges Bestehen. Begonnen hat die Geschichte in Lausanne. 1927 weilte der an Kinderlähmung erkrankte junge Franzose André Trannoy erstmals im orthopädischen Zentrum in Lausanne. Um die geknüpften Bekanntschaften aufrechtzuerhalten, rief er mit drei weiteren Franzosen eine Schreibgruppe ins Leben. 1932 folgte in Lausanne die Gründung der Association des Paralysés et Rhumatisants française, der bald auch erste Schweizer Mitglieder beitraten. «Die von Polio betroffenen Menschen und andere Gelähmte waren oft nicht mobil und konnten sich nicht bewegen. Diese Schreibgruppen boten eine willkommene Abwechslung und die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen über das eigene Schicksal auszutauschen», erklärt Mario Corpataux, Sprecher der Vereinigung, den FN. Aus Angst, von Frankreich abgeschnitten zu werden, beschloss die Schweizer Sektion am Vorabend des Zweiten Weltkriegs 1939 den Alleingang und wurde zu einer eigenständigen Vereinigung.

Information ist wichtig

Neben den Schreibgruppen organisierte die Schweizerische Vereinigung der Gelähmten auch verschiedene Kurse und Lager und eröffnete 1951 in Vevey ein erstes Heim. Ein wichtiger Schritt, wie Mario Corpataux betont. Wegen der Lähmungserscheinungen seien die an Polio erkrankten Personen meist auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen gewesen. «Das Bedürfnis nach Autonomie konnte da kaum erfüllt werden.» Auch eine Unterbringung in anderen Heimen sei nicht ideal gewesen. «Die Polio-Betroffenen haben einen normalen, häufig sogar überdurchschnittlichen Intellekt. Zudem sind es Kämpfer, die so viel wie möglich selbst machen wollen.»

Auch wenn seither entsprechende Institutionen entstanden, 1961 die Invalidenversicherung eingeführt wurde, seit 1983 in der Schweiz kein Polio-Fall mehr aufgetreten ist und auch Gelähmte heute viel mobiler sind, geht der Vereinigung die Arbeit noch lange nicht aus. So bietet sie auch weiterhin verschiedenste Kurse – von kreativen Aktivitäten über Schreibwerkstätten bis hin zu Bildungskursen – an und verteidigt die Anliegen der 1600 Mitglieder. Zum einen gebe es durch die Migration auch immer wieder jüngere Mitglieder, sagt Mario Corpataux. Zum anderen machten sich bei den älteren Betroffenen nun vermehrt Spätfolgen bemerkbar: Das Post-Polio-Syndrom (siehe blauer Kasten).

«Dank den Impfungen hatte man die Krankheit in der Schweiz schnell im Griff – und forschte natürlich nicht weiter», so Corpataux. So wisse man relativ wenig über das Post-Polio-Syndrom, zudem sei viel Wissen verloren gegangen. «Jüngere Ärzte und Pflegefachleute kennen die Auswirkungen des Polio-Virus gar nicht mehr, nehmen die Beschwerden der Patienten nicht genügend ernst und vermuten manchmal psychische Probleme.» Deshalb sei die Öffentlichkeitsarbeit eine besonders wichtige Aufgabe der Vereinigung. «Wir kämpfen für eine breitere Anerkennung des Post-Polio-Syndroms und fördern die bessere Zusammenarbeit mit den medizinischen Fachpersonen.» Neben den Regionalsektionen gibt es innerhalb der Vereinigung deshalb auch den selbständigen Zweig Sips, die Schweizerische Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom.

Mit weiteren 75 Jahren Arbeit rechnet Corpataux jedoch nicht. «Den 100. Geburtstag werden wir wohl noch erleben. Dann wird die SVG hoffentlich nicht mehr nötig sein.» rb

Die ASPr-SVG ist eine von der Zewo anerkannte Vereinigung mit Sitz in Freiburg, dem ein Zentralvorstand von betroffenen Menschen vorsteht. Die Vereinigung nimmt gerne Polio- oder Post-Polio-Betroffene auf. Anmeldungen unter info@polio.ch oder 026 322 94 33. Mehr Infos: www.aspr-svg.ch

Ausrottung: Zahl der Infizierten ist im Jahr 2013 wieder angestiegen

G ab es in der Schweiz in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre rund 850 Poliomyelitis-Erkrankungen pro Jahr, sanken diese Zahlen nach der Einführung der Impfung 1957 auf zunächst fünf (1962 bis 1968) und später auf einen Fall. Der letzte Fall von Kinderlähmung ereignete sich in der Schweiz im Jahr 1983. Seit 2002 gilt gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO die ganze Region Europa als frei von Poliomyelitis.

Anstieg im Jahr 2013

1988 hatte die WHO beschlossen, die Kinderlähmung weltweit auszurotten. Die Zahl der damals auf über 350 000 geschätzten Erkrankungen ist seither dank Impfungen um über 99 Prozent zurückgegangen. Dennoch warnt die Weltgesundheitsorganisation vor einer erneuten Ausbreitung der Kinderlähmung. Gab es im Jahr 2012 weltweit noch 223 Krankheitsfälle, ist diese Zahl 2013 auf fast das Doppelte angestiegen.

Grund dafür seien nachlassende Impfungen, aber auch Unruhen in manchen Ländern. «Ein Beispiel ist Syrien», sagt Mario Corpataux, Sprecher der Schweizerischen Vereinigung der Gelähmten SVG. «Bis 2013 galt Syrien als poliofrei, dann brach der Bürgerkrieg aus. Die hygienischen Verhältnisse wurden schlechter, die Impfungen vernachlässigt – und es gab 35 neue Fälle von Kinderlähmung.» Auch in den davor poliofreien Ländern Israel und Brasilien wurden mittlerweile wieder Polio-Viren entdeckt.

Zehn Milliarden eingesetzt

Nur wenn mindestens 95 Prozent der Bevölkerung geimpft seien, könne garantiert werden, dass das Polio-Virus aussterbe, sagt Corpataux. Dies kostet Geld. «Bisher wurden rund zehn Milliarden Franken für Impfungen eingesetzt.» Gemäss Schätzungen sind weitere fünf Milliarden Franken nötig, um eine weltweite Ausrottung zu erreichen. rb

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