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Weggesperrt ohne Gerichtsbeschluss

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Sie hatten keine kriminellen Taten begangen, und doch sperrten die Behörden sie weg: Zehntausende Menschen wurden im 20. Jahrhundert Opfer der administrativen Versorgung. Es waren unverheiratete Mädchen, die schwanger wurden, Alkoholkranke oder Menschen, deren Lebensstil ganz einfach nicht den sozialen Vorstellungen der Zeit entsprach. Das zeigen neue Berichte der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen, die Ende Mai vorgestellt wurden.

«Bequemes Instrument»

Die Freiburger Professorin für Zeitgeschichte Anne-­Françoise Praz ist Vizepräsidentin der nationalen Expertenkommission. Sie hat unter anderem die Situation in Freiburg untersucht. «Freiburg war unter jenen Kantonen, die das Instrument der administrativen Versorgung am längsten angewandt haben», sagt sie. Gesetze dazu bestanden bis 1981, als der Bund die administrative Versorgung schweizweit abschaffte. «Die administrative Versorgung war ein bequemes Instrument, um soziale Probleme zu regeln», erklärt Praz.

«Zudem konnten die Behörden damit Kosten sparen. Man platzierte etwa Betagte in der Anstalt Bellechasse, statt sie in einem Heim für altersschwache Personen unterzubringen.» Der politische Wille habe gefehlt, diese Probleme anders anzugehen und zum Beispiel Alkoholismus als medizinisches Problem anzuschauen.

Oberamtmänner entschieden

Das zeigen auch Aussagen des früheren Oberamtmanns des Glanebezirks, Rémi Brodard, den Ludovic Maugué in einem der UEK-Berichte zitiert. «Die Bekämpfung der Faulheit ist eine Massnahme zur öffentlichen Sicherheit; etwa wenn ein Individuum mit seinem Lebensstil die öffentliche Sicherheit und Gesundheit gefährdet», sagte der Oberamtmann noch 1970. Die Oberamtmänner hatten im Kanton Freiburg eine ausserordentliche Macht, denn sie entschieden über administrative Versorgungen.

Die Vorsteher der Bezirke galten als Garanten der öffentlichen Ordnung und wurden vom Staatsrat eingesetzt. «Sie waren Ankläger, Untersuchende und Richter zugleich», fasst Praz zusammen. Gemeinden oder Einzelpersonen hätten die Oberamtmänner auf Fälle aufmerksam gemacht. Diese hätten nach den passenden rechtlichen Grundlagen gesucht, eine Untersuchung geführt und schliesslich entschieden, ob die Menschen eingesperrt wurden oder nicht. «Die Verfahren waren wenig formalisiert und sehr intransparent», sagt Praz. Die Betroffenen hätten sich kaum wehren können.

Zusammen mit Kriminellen

Viele dieser Menschen kamen in die Anstalt Belle­chasse im Freiburger Seeland. Sie war eine der grössten Institutionen und nahm auch Versorgte aus anderen Kantonen auf, wie Praz sagt. «1950 hatte Bellechasse 555 Insassen, 350 davon waren administrativ Versorgte.» Speziell in Bellechasse­ war, dass administrativ Versorgte zusammen mit Kriminellen untergebracht waren. «Für die administrativ Versorgten war das sehr schwierig, hatten sie doch keine Delikte begangen.»

Die Bedingungen in Belle­chasse waren hart. «Besonders in den 1930er- und 1940er-­Jahren litten die Insassen Hunger.» Das zeigten die zahlreichen Dokumente aus dem Archiv. «Das Kantonsarchiv hat enorme Vorarbeit geleistet und uns 6750 individuelle Dossiers zu Insassen von 1919 bis 1981 zur Verfügung gestellt», sagt Praz.

Erinnerung ist wichtig

Die Opfer der administrativen Versorgung können dank einem Bundesgesetz von 2016 eine Entschädigung fordern. «Viele der administrativ Versorgten leben nicht mehr», sagt Praz. «Aber es ist sehr wichtig, dass wir uns an sie erinnern und an das Unrecht, dass ihnen angetan wurde.» Dies besonders in Freiburg, wo die Massnahme der administrativen Versorgung länger als anderswo angewandt worden ist.

Bei der Erinnerung helfen sollen die Berichte der Unabhängigen Exper­ten­kom­mis­sion. Und damit diese nicht im Bücherregal bleiben, hat die Kommission entschieden, nach draussen zu gehen und das Thema mit Anlässen und Ausstellungen zu den Leuten zu bringen (siehe auch Kasten). Eine Wanderausstellung zieht seit März durch zwölf Schweizer Städte, der letzte Halt ist nun Freiburg. Ein Pavillon auf dem Bahnhofplatz gewährt Einblick in die Schicksale der administrativ Versorgten.

Die Ausstellung auf dem Bahnhofplatz dauert noch bis Sonntag. Heute Mittwoch finden über Mittag Kurzführungen auf Deutsch und Französisch statt.

Die Inhalte der Ausstellung sind auch online verfügbar unter www.uek-administrative-versorgungen.ch/ausstellung/

Die Forschungsresultate der Kom­mis­sion sind verfügbar unter: www.uek-administrative-versorgungen.ch/forschung

Lesung

«Ich weiss weniger als die Kriminellen»

«Ich wusste nicht, dass ich ins Gefängnis komme, ich weiss weniger als die Kriminellen, aber das Leben einer Kriminellen muss ich jetzt führen», schrieb 1933 eine administrativ Versorgte in einem Brief an ihre Schwester. Doch der Brief kam nie an, die Direktion der Anstalt Bellechasse beschlagnahmte ihn.

Er ist nicht der einzige: Zahlreiche solcher beschlagnahmter Briefe hat die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen untersucht. Einige von ihnen präsentierte sie gestern Abend der Öffentlichkeit: Die Schauspieler Anne Jenny und Samuel Braun lasen im prall gefüllten Nouveau Monde in Freiburg aus den Briefen vor. «Kritische Briefe wurden beschlagnahmt, aber auch allzu freundschaftliche oder Liebesbriefe», erklärte UEK-Vizepräsidentin Anne-Françoise Praz.

Zu wenig zu essen

Die Briefe zeugen von der Unsicherheit, denen die Insassen ausgesetzt waren. So schrieb ein Mann 1934 an den Direktor der Anstalt: «Ich bin nun seit 13 Monaten in der Anstalt und möchte wissen, wie lange ich noch bleiben muss?» Viele Insassen schreiben, sie hätten zu wenig zu essen. «Der Hunger ist schrecklich, man ist wie benommen, und nach einer Weile kriegt man schreckliches Kopfweh», schreibt ein Insasse der Jugendkolonie. Auch mit der Hygiene stand es nicht zum Besten: «Ich gehe nicht in die Kirche, bis ich die Kleider wechseln kann», droht ein Insasse 1932. «Die Bluse trage ich seit Monaten und die Hosen sind dreckig und zu klein.»

Die Verzweiflung wird besonders in Briefen von Müttern deutlich, denen unehe­liche Kinder weggenommen wurden. «Ihr habt mir das Marie-­Anneli genommen. Ich brauche euch nicht mehr, ihr helft euren Mündeln ja auch nicht», schreibt 1969 eine Internierte an ihren Vormund. Manche Frauen hätten einer arrangierten Heirat zugestimmt, um aus Bellechasse zu kommen, sagt Historikerin Praz. «Einige verschwanden dann kurz vor der Heirat.»

Die Briefe zeigen vor allem eines: Den Versorgten war das ihnen angetane Unrecht bewusst und sie versuchten, sich Gehör zu verschaffen. «Ich bin Architekt, glauben Sie nicht, dass ich anderswo nützlicher wäre?», schreibt ein Internierter an den Bundesrat. Auch dieser Brief kam nie an.

nas

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