Zwischen Balance und Ungleichgewicht
Der Tessiner Bildhauer Ivo Soldini zeigt seine Werke im Schloss Greyerz
Seit mehreren Jahren sind die Sommerausstellungen des Schlosses Greyerz der Plastik gewidmet. Diesen Sommer präsentiert der Tessiner Künstler Ivo Soldini sein vielseitiges Schaffen.
Von RAOUL BLANCHARD
und ANITA PETROVSKI
In seinen Werken thematisiert Ivo Soldini den menschlichen Körper und hinterfragt den Sinn unserer Existenz. Im Schloss Greyerz stehen seine Skulpturen in spannungsvoller Beziehung zu den mächtigen Burgmauern. Die grossen Werke aus Bronze, Gussharz oder Aluminium geben den Aussenplätzen ein neues Gepräge.
Antike Motive in moderner Sprache
Die kreisrunde Figur «Société» empfängt die Besucher vor dem Schlossportal. Sie stellt den Kreis des Lebens dar, eingebettet in die Gesellschaft, die kraftvoll und harmonisch auftritt, sich aber hermetisch nach aussen abschirmt. In der Behandlung des menschlichen Körpers lässt sich Soldini von antiken Motiven (Körper, Faltenwurf) leiten und überträgt sie in eine moderne Sprache.
Im Äusseren Hof präsentiert Soldini mit den diagonal geneigten Figuren «Inclinés» eines seiner Leitmotive. Sie treten isoliert oder in Gruppen auf und stellen einen dynamischen Kontrast zu den vertikalen Schlossfassaden dar. Sie fordern unseren Gleichgewichtssinn heraus und führen uns die Labilität unserer Existenz vor Augen.
Sechs monumentale Köpfe («Têtes») erinnern an erratische Blöcke, mächtige Helme oder gar prähistorische Idole. Ohne Augen, Mund, Nase und Ohren wird ihr Gesicht zu einer fast abstrakten Form reduziert. Die Farben Schwarz, Grau oder Rot steigern den Verfremdungseffekt. Die Haut ist zerklüftet und aufgebrochen. Soldini will nicht die vordergründige Schönheit wiedergeben, sondern die markanten Züge des Charakters.
Reduktionistische Formensprache
Im Schaffen Ivo Soldinis nimmt die Frau, die weibliche Gestalt einen zentralen Platz ein. Seine Formensprache bleibt jedoch auch hier reduktionistisch. Den Innenhof des Schlosses bevölkern neun magistrale Frauenfiguren («Verticales féminines»). Die grössten unter ihnen erreichen eine stattliche Höhe von 420 Zentimetern. Die Eleganz ihrer Erscheinung wird durch die schwarze Farbe noch hervorgehoben.
In den Ausstellungssälen vervollständigen Skulpturen, Reliefs, Zeichnungen und Druckgrafiken die Präsentation. Das monumentale Gussharz-Relief «Stratifications» dominiert den gewölbten Saal. Seine geometrisch-klare Struktur löst sich beim genaueren Hinsehen zu einer Anordnung menschlicher Gestalten auf: Männer, Frauen und Kinder sind wie auf einem gewaltigen antiken Sarkophag darauf abgebildet. Das Bronzemodell daneben regt zu Vergleichen zwischen Entwurf und Endwerk an.
Ansichten des Schlosses Greyerz
Pastelle und Druckgrafiken sind für Soldini eine wesentliche Stütze bei der Entstehung seiner plastischen Werke. Sie dokumentieren seine unablässige Suche nach der wahren Abbildung der Form im Raum. Balance und Ungleichgewicht, Bewegung und Ruhe, Dynamik und Spannungslosigkeit sind seine zentralen Themen, die er oft im Gegensatz zwischen Mann und Frau symbolisch visualisiert.
Im Zeughaus-Saal ist eine Reihe von fünf Ansichten des Schlosses Greyerz ausgestellt («Esplanade du Château de Gruyères»). Es handelt sich um Tuschzeichnungen, die Ivo Soldini im Hinblick auf diese Ausstellung geschaffen hat. Sie zeigen seinen spontanen, kraftvollen Pinselstrich und vermitteln uns ein Bild des Schlosses, das an die metaphysischen Werke des italienischen Malers Giorgio de Chirico (1888-1978) erinnert.
Die Ausstellung dauert bis zum 4. September. Öffnungszeiten: täglich 9 bis 18 Uhr. Weitere Informationen: www.schloss-greyerz.ch.
Von der Malerei zur Bildhauerei
Wichtige Themen von Ivo Soldini sind der Mensch und der Raum. Beeinflussen liess sich der Tessiner unter anderen von Alberto Giacometti und Francesco Borromini.
Ivo Soldini wurde am 9. Oktober 1951 in Lugano geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Bellinzona, der Stadt an der Gotthard-Achse mit ihren zwei Gesichtern: Das eine ist nach dem sonnigen Süden gerichtet, das andere nach den kargen Bergen des Nordens. Das Aufwachsen im Spannungsfeld zwischen verschiedenen Kulturen und Mentalitäten prägte Ivo Soldini nachhaltig und schlägt sich noch heute in seinen Werken nieder.
Ende der Sechzigerjahre begab er sich zu Studienzwecken nach Mailand. Er besuchte die Akademie der Schönen Künste Brera und die staatliche Universität, wo er die Fächer Politikwissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie belegte. Doch der ungestüme junge Mann fühlte sich in seinen Entfaltungsmöglichkeiten zu sehr eingeengt, weshalb er beide Ausbildungen abbrach. Einem inneren Drang folgend, suchte er sich seinen eigenen Weg. Er unternahm zahlreiche Reisen und baute sich ein enges Beziehungsnetz zu verschiedensten Künstlern auf.
Experimentierfreudig
Aber Soldini wollte nicht nur seinen Horizont erweitern, sondern auch seine Wurzeln finden. Deshalb übernahm er das elterliche Haus in Ligornetto bei Mendrisio. Mit viel Respekt, Geschmack und Talent baute er das aus dem 17. Jahrhundert stammende Gebäude um und bewahrte ihm so seinen typischen Charakter. Dieses Haus wurde fortan zu seinem Lebenspol. Hier schöpft er Kraft, findet Ruhe und Inspiration.
Soldini begann seine künstlerische Laufbahn als Maler. Seine frühen Werke sind im Bereich des Symbolismus und Expressionismus anzusiedeln. 1973 wendete er sich der Bildhauerei zu, wobei Grafik und Malerei stets einen wichtigen Platz in seinem Schaffen behielten. Während zehn Jahren experimentierte er mit verschiedensten Ausdrucksformen und Materialien. Besonders der Toskaner Marino Marini (1901-1980) und der Bündner Alberto Giacometti (1901-
1966) beeinflussten seine Auffassung des menschlichen Körpers.
Virtuose Beherrschung des Raumes
Zu Beginn der Achtzigerjahre fand er seinen eigenen, unverwechselbaren Stil, der noch heute seine Werke prägt. Die virtuose Beherrschung des Raumes und das Interesse für urbanistische Aspekte dürften wohl ein Erbe der grossen Tessiner Architekten sein. Besonders dem berühmten Francesco Borromini fühlt er sich verbunden. Es war ihm eine Ehre, diesem grossen Landsmann in Bissone, am Ufer des Luganersees, ein Denkmal zu errichten («Omaggio a Borromini», 1999).
Ivo Soldini nimmt seit 1973 regelmässig an Ausstellungen teil, und zahlreiche seiner Werke befinden sich im öffentlichen Raum oder in Sammlungen des In- und Auslandes. rb/ap