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Das Jahr 2021 hat die Gesellschaft an ihre Grenzen gebracht

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Corona war im letzten Jahr das dominierende Thema. Sich ständig ändernde Vorschriften haben die Menschen belastet. Und noch ist kein Ende der Krise in Sicht. Ein Gespräch mit Rechtsprofessorin Eva Maria Belser über ein schwieriges Jahr.

Eva Maria Belser, wenn das Jahr 2021 unter einem Schlagwort zusammengefasst werden müsste, könnte dies Stillstand heissen?

Viele Dinge standen still, anderes war aber auch sehr turbulent. In einigen Bereichen gab es mehr Aufregung und Veränderung, als man sich gewünscht hätte. Alltag war es jedenfalls nicht.

Wenn Sie von Veränderung sprechen, woran denken Sie dann?

Rechtlich ist sehr viel passiert, fast jede Woche galten neue Regelungen, wir hatten Referendumsabstimmungen, plötzlich ein Covid-Zertifikat, von dem man lange glaubte, es würde nicht kommen. Aber auch gesellschaftlich gab es viele Spannungen, eine Polarisierung, die man so in der Schweiz bisher nicht gekannt hat.

Die Corona-Pandemie als vorherrschendes Thema, das alle Lebensbereiche in Beschlag genommen und Abwehrreflexe in der Bevölkerung hervorgerufen hat, weil allmählich alles zu viel wird: Ist es das, was für Turbulenzen, aber auch für Stillstand gesorgt hat?

Ja, es ist nicht möglich, auf das Jahr zurückzublicken und Corona auszublenden. Denn die Pandemie hat die Arbeit, die Freizeit, die Kultur, das Familienleben, die Reisetätigkeit, überhaupt die Möglichkeit, Pläne zu schmieden, tangiert. Die Verlässlichkeit ist verloren gegangen, und das strahlt in alle Bereiche aus. Es herrscht Verunsicherung.

Weil wir in unseren sicher geglaubten Freiheitsrechten eingeschränkt worden sind?

Ja, das ist so. Gerade in der Schweiz, in einem Land, in dem wir sehr verwöhnt gelebt haben, in dem die Nachkriegsgenerationen das Gefühl hatten, tun zu können, was sie wollen – abgesehen von finanziellen oder persönlichen Einschränkungen – ist das besonders aussergewöhnlich. Es ist fast so, als wenn eine neue Kriegsgeneration entstehen würde.

Sie tönen es an: Freiheitsrechte, Grundrechte, Menschenrechte werden normalerweise mit einem Anspruch auf Erfüllung assoziiert. Nun werden sie nicht nur in Einzelfällen beschnitten, sondern für die ganze Gesellschaft. Wie haben Sie es als Verfassungsrechtlerin erlebt, dass erstmals in der Geschichte der Schweiz eine Umkehr dieser Sichtweise stattfindet? Oder gab es das schon einmal?

Nein, in diesem Ausmass ist es absolut einmalig. Vor allem während des Lockdown 2020 waren fast alle Grundrechte massiv eingeschränkt, sogar die politischen Rechte. Es wurden keine Abstimmungen und Wahlen mehr durchgeführt, sogar die Parlamente tagten für eine gewisse Zeit nicht mehr. Die Schulen waren geschlossen, die Wirtschafts-, die Bewegungs- und die Religionsfreiheit waren eingeschränkt. Das war für mich eine unglaubliche und eine erschreckende Erfahrung.

Und dennoch ist es geschehen.

Ja, aber das zeigt auch etwas anderes: Wir reden meist von Freiheitsrechten. Die Verfassung garantiert jedoch Grundrechte. Grundrechte haben verschiedene Dimensionen. Ihnen entspringen Achtungspflichten, das heisst, der Staat muss die Freiheit der Menschen achten und sie machen lassen. Sie lösen aber auch Schutzpflichten aus – und diese sind für unsere Freiheit und Sicherheit genauso wichtig. Unter Umständen müssen Massnahmen ergriffen werden, um das Recht auf Leben, persönliche Integrität und Gesundheit für alle zu schützen. Und hier haben wir eine Umkehr erlebt: Plötzlich standen die Schutzpflichten im Zentrum, und wir haben ebenfalls zum Schutz der Grundrechte Handlungsmöglichkeiten und Wahlfreiheiten verloren.

Sie sind im Rahmen der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce Mitglied der Expertengruppe Ethik, Recht und Soziales. Hat diese Gruppe eine Zieldefinition vorgenommen, was mit den Einschränkungen unter allen Umständen geschützt werden soll?

Natürlich habe ich immer versucht, den Gesichtspunkt der Verfassung einzubringen. Nach der Verfassung stehen grundsätzlich alle Grundrechte auf gleicher Ebene. Gibt es einen Konflikt, was nicht neu ist, etwa im Zusammenhang mit dem Umweltschutz und der Wirtschaftsfreiheit, muss abgewogen werden. Ziel des Staates muss es sein, alle Grundrechte möglichst optimal zu verwirklichen. Einschränkungen dürfen nur dort erfolgen, wo sie erforderlich sind, um öffentliche Interessen oder die Grundrechte anderer Menschen zu schützen. 

Gibt es also grundsätzlich keine Grundrechte, die mehr Wert sind als andere?

Nein, es gibt keine scharfe Hierarchie zwischen den Grundrechten, aber es gibt die sogenannten Kerngehalte. Und diese dürfen nie eingeschränkt werden. Zu diesen Kernwerten gehören unter anderem die Menschenwürde und der innerste Bereich der persönlichen Freiheit und des Privatlebens. Wenn diese infrage stehen, müssen andere Grundrechte weichen. An diesen Punkt kommt man zum Beispiel, wenn die Frage der Triage von Patientinnen und Patienten ansteht, wenn nicht mehr alle Menschen optimal behandelt werden können und entschieden werden muss, wer ein Bett in der Intensivstation erhält und wer nicht. Beim Abwägen von Grundrechten gibt es zudem solche, die leichter nachgeben als andere. Grundsätzlich müssen Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie eher weichen, weil die Folgen ihrer Einschränkung eher wieder gutgemacht werden können. Körperliche und psychische Schäden sind dagegen oftmals irreversibel.

Das heisst mit anderen Worten, die Gesundheit und damit die Entlastung der Spitäler wurden als oberstes Ziel definiert?

Das war der Strategiewechsel, den der Bundesrat vollzogen hat. Vor der Impfung ging es darum, die Infektionsrate zu senken. Später war es das Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Denn ein überlastetes Gesundheitssystem ist für die Grundrechte von uns allen eine Katastrophe.

Dennoch konnte und kann eine Triage nicht verhindert werden. Zwar ist das weitgehend ein Tabu, aber schon heute werden Operationen beispielsweise von Krebspatientinnen und -patienten verschoben, wenn die Intensivstationen wegen Corona-Patientinnen und -Patienten an ihre Grenzen kommen.

Wenn eine Triage nötig wird, sind härtere Massnahmen angezeigt, denn dann berühren wir die Kerngehaltsgarantien der Grundrechte. Das ist verfassungsrechtlich und ethisch ein unerträglicher Zustand. Die Triage ist auch eine Belastung für diejenigen, die sie vornehmen müssen. Das Thema ist aber tatsächlich ein Tabu. Es findet keine demokratische Auseinandersetzung darüber statt. Bisher hat erst die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften reagiert, indem sie ihre Richtlinien angepasst hat. Es gibt aber einen gewissen politischen Druck, dass Nichtgeimpfte nachrangig behandelt werden sollen. 

Sollten sie das?

Nein. Das Recht auf Gesundheit gilt für alle und ist verschuldensunabhängig. Das können wir als Gesellschaft auch nicht anders wollen. Wenn es aber hart auf hart gehen sollte, würde es wohl indirekt darauf hinauslaufen, dass Corona-Patienten und -Patientinnen – ob geimpft oder ungeimpft – hintenanstehen müssten. Denn Ziel der Intensivstationen ist es, möglichst viel Leben zu retten oder zu verlängern. Covid-Kranke beanspruchen Intensivbetten im Durchschnitt zwei bis drei Wochen, andere Patienten nur ein paar Tage.

Wenn Sie sagen, dass vor einer Triage schärfere Massnahmen ergriffen werden müssten, meinen Sie damit die Impfpflicht?

Das ganze Jahr hindurch wurde immer mehr Druck auf die Nichtgeimpften ausgeübt. Das ist eine Entwicklung, die mir persönlich nicht gefällt.

Mir wäre eine demokratisch geführte Diskussion über ein Impfobligatorium sehr viel lieber als Massnahmen, die immer mehr Nachteile für Nichtgeimpfte bringen.

Ich fände das ehrlicher. Wir sind eine Demokratie, und diese so entscheidende Frage sollte nun auf den Tisch. Vielleicht wäre ein allgemeines Obligatorium mehrheitsfähig, vielleicht nicht. Es wäre gut, Klarheit in dieser Frage zu haben. 

Wie könnte denn eine Impfpflicht durchgesetzt werden?

Mittels Aufgeboten, Mahnungen und am Ende auch mit Bussen. Ein eigentlicher Impfzwang, bei dem Menschen körperlich gezwungen werden, sich impfen zu lassen, kommt dagegen nicht infrage. Die Rechtsdurchsetzung muss jedoch wieder klar beim Staat liegen, was heute nicht der Fall ist. Jetzt sind dazu alle aufgefordert: Ich beispielsweise sollte meine Studierenden kontrollieren, und wir alle müssen an Familienfesten die Verwandten fragen, ob sie geimpft sind oder nicht. Wir werden alle zu Polizisten, und das halte ich für ein grosses gesellschaftliches Problem. Denn wir gehen auch nicht nachschauen, wer auf der Autobahn zu schnell fährt oder die Steuerrechnungen nicht bezahlt. Dafür ist der Staat, die Polizei zuständig. 

In der Corona-Pandemie setzen wir alles daran, möglichst viele Menschenleben zu retten. Gleichzeitig nehmen wir jedes Jahr unzählige Verkehrstote in Kauf. Sind so gesehen die aktuellen Massnahmen verhältnismässig?

Mich hat es beim ersten Lockdown sehr berührt, dass man gesagt hat, wir wollen nicht, dass so viele alte und gefährdete Menschen sterben, wir fahren das ganze Wirtschaftssystem herunter, koste es, was es wolle. Dieser Akt der Solidarität ist besonders. Denn sonst wird oftmals anders argumentiert. Wenn es etwa um Waffenexport-Verbote geht, wird gesagt, dass ein solches dem Wirtschaftsstandort schaden würde.

Diese Haltung hielt aber nicht lange an. Deutlich wurde dies im Tourismus, als die Schweiz im letzten Winter, noch vor den ersten Impfungen, ihre Skistationen öffnete.

Das gehört in der Tat zu den Bereichen, die dringend aufgearbeitet werden müssen. Es ist natürlich gut und wichtig, wenn das Wirtschaftsleben funktionieren kann, soweit das möglich ist. Es gab aber gewisse Entscheidungen, die ich nur schwer nachvollziehen konnte. 

Zum Beispiel?

Etwa, welche Geschäfte und Angebote als essenziell und lebensnotwendig deklariert wurden und welche nicht. Es gab Zeiten, da durften Kosmetik- und Tatoogeschäfte offenbleiben, während Buchhandlungen geschlossen werden mussten.

Die Vorstellung, dass der Mensch zum Überleben Medikamente und Lebensmittel braucht, finde ich zu einfach. Der Mensch ist ein viel komplexeres Wesen, dem muss man Rechnung tragen, vor allem wenn Massnahmen länger andauern. 

Dass etwa Grossveranstaltungen, deren Betreiber einfacher Lobbying betreiben können, teilweise erlaubt waren, während kleinere Betriebe schliessen mussten, war für viele Betroffene schwer verständlich.

Wie etwa das Besuchsverbot in Pflegeheimen?

Auch hier braucht es Untersuchungen. Mir erscheint die Aufarbeitung dieser Fragen jetzt vordringlich zu sein. Die Schweiz und auch andere Länder müssen Bilanz ziehen und schauen, wo Fehler passiert und wo Verbesserungen und Wiedergutmachungen nötig sind. Natürlich muss die Aufarbeitung berücksichtigen, dass zu Beginn und mit unvollständigem Wissen rasch entschieden werden musste. Aber wir dürfen die Chance nicht verpassen, aus der Pandemie zu lernen.

Gibt es noch andere Bereiche, bei denen sich eine genaue Analyse aufdrängt?

Ja, zum Beispiel bei der Versammlungsfreiheit. Teilweise durfte nicht einmal draussen demonstriert werden, wo Schutzkonzepte und Abstände möglich gewesen wären. Das war meines Erachtens nicht verhältnismässig. Mich interessiert auch, was in den Schulen gelaufen ist, ob es nicht möglich gewesen wäre, die Schulen zwar zu schliessen, aber für Kinder und Jugendliche, die zu Hause keine guten Arbeitsbedingungen vorfinden, Klassen mit zwei, drei Schülerinnen und Schülern weiterzuführen. Der Bildungsrückstand bei einigen Kindern muss dringend aufgeholt werden, damit die Chancengleichheit als wichtiges Verfassungsprinzip gewährleistet ist. Hier kann man nicht einfach zum Alltag übergehen. 

Als im letzten Herbst der Präsenzunterricht an den Hochschulen für Personen mit einem Zertifikat wieder erlaubt war, wurde gleichzeitig der PCR-Test wieder kostenpflichtig. Wurde damit das Recht auf Bildung für nichtgeimpfte Studierende nicht unverhältnismässig eingeschränkt?

Ich fand das sehr problematisch, weil es eine Ungleichheit erzeugt. Denn das Diskriminierungsverbot verbietet es, nach sozialer Herkunft zu unterscheiden. Es stellt sich darum die Frage, ob die kostenpflichtigen PCR-Tests nicht indirekt eine Diskriminierung darstellten, weil sich nicht alle diesen Test leisten konnten.

Und dass die Universität die Kosten übernommen hätte, war das keine Option?

Das wäre wünschbar gewesen. Ich hätte mir aber auch gewünscht, dass der Kanton einspringt. Denn die Uni verfügt über wenig finanziellen Spielraum.

Können Sie, ob all des Gesagten, den Unmut verstehen, der teilweise in der Bevölkerung wegen den Massnahmen entstanden ist?

Ganz am Anfang habe ich es sehr positiv wahrgenommen, dass es Leute gibt, die Kritik äussern, demonstrieren wollen und sagen, wir stehen nicht alle stramm hinter dem Bundesrat. Das war mir nicht unheimlich, das gehört zu einer lebendigen Gesellschaft. Vor allem in der ersten Phase, in der das Parlament zu Hause war, es keine Volksabstimmungen gab, nur noch der Bundesrat am Ball war und alle am Freitag nach Hause gingen, um zu erfahren, was man noch darf und was nicht mehr. Eine solche Machtkonzentration hat die Schweiz noch nie erlebt.

Das haben Sie als positiv wahrgenommen, es wurde in der Gesellschaft aber sehr schnell kritisch beäugt.

Ja, plötzlich ist das Gefühl entstanden, dass jene, die etwas kritisieren, Corona-Leugner, Ewiggestrige und Verschwörungstheoretiker sind. Sie wurden marginalisiert. Dabei müsste geschaut werden, welche Massnahmen vielleicht nicht gut sind und wie man es besser machen könnte. Eine demokratische Gesellschaft muss das Gespräch suchen. Es muss eine Diskussion darüber möglich sein, wie viel man in Kauf nehmen will, eben beispielsweise wie viele Tote. Das sind berechtigte Fragen.

Dies umso mehr, als sich andersrum viele Menschen nicht aus solidarischen Gründen haben impfen lassen, sondern aus ureigenem Interesse, etwa, weil sie wieder reisen möchten.

Es stellt sich die Frage, ob es strategisch so klug war, die Impfbereitschaft moralisch aufzuladen. Ich wiederhole mich: Aus diesem Grund wäre es gut, einen gesellschaftspolitischen Konsens in der Impffrage zu suchen.

Und doch meidet der Bundesrat diesen Schritt und zieht die Schraube mit 2G und 2G+ weiter an, um auch die letzten Impfskeptiker zur Impfung zu drängen. Wie erklären Sie sich das?

Der Bundesrat weiss, dass das Impfobligatorium gesellschaftlich seit eh und je sehr kontrovers diskutiert wird. Das war schon bei der Revision des Epidemiengesetzes 2013 so, gegen das Impfgegner das Referendum ergriffen hatten, dann allerdings scheiterten. Genau durch diese Abstimmung erlangte die damals neu eingeführte Impfpflicht für bestimmte Personengruppen aber auch eine hohe demokratische Legitimation. Dies ganz im Gegensatz zu den vielen Massnahmen, die heute in Verordnungen festgelegt werden, gegen die kein Referendum möglich ist. Dennoch hat der Bundesrat schon früh in der Pandemie, noch bevor es überhaupt einen Impfstoff gab, eine Impfpflicht ausgeschlossen. 

Im Zusammenhang mit der Kostenpflicht von PCR-Tests haben Sie gesagt, dass Sie mehr vom Kanton Freiburg erwartet hätten. Hätten Sie ihn auch in Bezug auf andere Aspekte in der Bekämpfung der Corona-Pandemie stärker in der Pflicht gesehen?

Das ist ebenfalls ein grosses Thema. Wir haben bisher über Grundrechte und Demokratie gesprochen. Hier geht es um den Föderalismus. Viele Dinge liefen sehr gut: Es gab einheitliche, harmonisierte Massnahmen, manchmal gab es regional begrenzte Massnahmen, je nachdem, wo der Krankheitserreger grad am stärksten verbreitet war. Man muss nicht Restaurants flächendeckend schliessen, wenn das Virus vor allem in einem Kanton vorherrschend ist. Auch das ist eine Frage der Verhältnismässigkeit. Insofern ist der Föderalismus schon ein geniales System im Umgang mit der Pandemie. Sogar Einheitsstaaten haben Regionen und Ampelsysteme eingeführt. Aber es gab gewisse Phasen in der Pandemie, in welchen der Föderalismus nicht funktionierte.

In welchen Phasen?

Als der Bundesrat im Herbst 2020 gesagt hatte, die Verantwortung für die Bekämpfung der Pandemie liege nun bei den Kantonen, und gegen den Wunsch der Kantone selbst Grossveranstaltungen wieder zuliess, und die Kantone ihrerseits die Auffassung vertraten, der Bund müsse handeln, entstand plötzlich ein negativer Kompetenzkonflikt. Beide, Bund und Kantone, hätten aufgrund der besonderen Lage zwar handeln können, aber niemand wollte. Dass die Zusammenarbeit zeitweise nicht klappte, hat bestimmt auch mit der fiskalischen Äquivalenz zu tun, einem Prinzip, das besagt, wer entscheidet, muss auch zahlen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob nicht ein gemeinsames Gremium zwischen Bund und Kantonen geschaffen werden müsste, das gemeinsam koordiniert und entscheidet – auch über die Kosten.

Stellt die Corona-Krise mit all den damit verbundenen Fragen eine gesellschaftspolitische Chance dar, um die richtigen Lehren für künftige, noch grössere Probleme wie die Klimakrise zu ziehen?

Ja, unbedingt. Der Bundesrat hat sich in der Vergangenheit immer wieder einmal auf seine notrechtlichen Zuständigkeiten gestützt, etwa im Rahmen der Finanzkrise oder bei der internationalen Terrorismusbekämpfung. Aber man hatte das Gefühl, dies sei ein verfassungsrechtlicher Nebenschauplatz. Und plötzlich beschäftigen wir uns in ungeahntem Ausmass mit Notrecht und dies schon lange. Ich sehe das auch so:

Vielleicht entsteht jetzt ein neuer Modus der demokratischen Regierungsführung im Eilmodus, weil die nächste Krise, die Klimakrise, ja schon auf uns wartet. 

Unsere Institutionen und Prozesse müssen in jedem Fall krisenresilienter werden.

Inwiefern?

In Krisen kommt es zu Machtverlagerungen. Wir haben in der Corona-Krise erlebt, dass sich die Macht vom Parlament zum Bundesrat verschoben hat und von den Kantonen zum Bund. In der Klimakrise verlagert sich die Macht möglicherweise zur Justiz. Es gibt weltweit schon sehr viele Klimaklagen. Vielleicht kann man eine Krise sogar so definieren: Eine Krise liegt dann vor, wenn die normalen Organe und Mechanismen einer Situa­tion nicht gewachsen sind. Unsere Antwort darauf lautet aktuell: Der Bundesrat übernimmt. Aber das ist angesichts der anhaltenden Probleme ungenügend. 

Was müsste konkret geschehen?

Hier sind Phantasie und Innovation gefragt. Es wäre etwa denkbar, dass eine Kommission oder eine Menschenrechtsinstitution Vorschläge prüft und eine Stellungnahme abgibt, bevor der Bundesrat entscheidet, schwerwiegende Einschränkungen der Grundrechte vorzunehmen. Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle, das Vier-Augen-Prinzip, muss in der Krise andere Formen annehmen. Es wäre auch möglich, dass das Bundesgericht die Aufgabe übernimmt, bundesrätliche Verordnungen vorzuprüfen.

Noch sind wir dafür aber nicht bereit.

Nein. Unsere staatlichen Institutionen und Abläufe sind nicht darauf vorbereitet, notfalls unter grossem Zeitdruck rechtsstaatlich und demokratisch zu entscheiden. Zwar werden die Parlamentskommissionen immer wichtiger, aber es gibt beispielsweise immer noch keine Menschenrechtskommission, die jederzeit per Videokonferenz oder sonst auf elektronischem Weg konsultiert werden könnte. Auch andere Akteure, wie Schulen und Pflegeheime, müssen sich überlegen, wie sie besser mit Krisen umgehen können. Denkbar wäre zum Beispiel, dass vermehrt partizipativ entschieden wird. Etwa, indem das Pflegepersonal in Heimen gemeinsam befindet oder indem Betroffene und ihre Angehörigen konsultiert werden. Wichtig ist einfach – das ist zweifellos eine Lehre der Geschichte – dass die Entscheidung nicht nur bei einer einzelnen Person liegt. Das Institut für Föderalismus bereitet gegenwärtig ein Forschungsprojekt vor, das darauf abzielt, staatsrechtliche Lehren zu ziehen und Empfehlungen zu erarbeiten.

Was wünschen Sie sich fürs kommende Jahr?

Ich hoffe, dass wir gemeinsam als Gesellschaft durch die Pandemie gehen und sich nicht die einen gegen die anderen richten. Wir müssen uns an den alten Grundsatz halten, den die Schweiz auszeichnet: Lasst uns miteinander reden.

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