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«Den Arbeitern blieb nur die Strasse»

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Im November 1918 gingen in der ganzen Schweiz 250 000 Arbeiter auf die Strasse und forderten unter anderem die AHV, das Frauenstimmrecht und die 48-Stunden-Woche (siehe Kasten). Was bleibt 100 Jahre später von der so kurzen wie geschichtsträchtigen Episode der Schweizer Zeitgeschichte? Der Historiker Juri Auderset von der Universität Freiburg hat zum Schweizer Generalstreik geforscht. Mit den FN spricht er über die Ursachen des Streiks, die Rolle des Kantons Freiburg und über den steten Kampf der Historiker gegen Geschichtsmythen.

Juri Auderset, der Landesstreik wird zurzeit unter Historikern kontrovers diskutiert. Vor allem die Ursachen des Streiks geben zu reden. Wo würden Sie die Gründe suchen?

Im Landesstreik kulminierten die sozialen, ökonomischen und politischen Konflikte der damaligen Schweizer Klassengesellschaft. In dieser Hinsicht gehört der Generalstreik sicher zu den interessantesten und wichtigsten Ereignissen der Schweizer Zeitgeschichte. Die Anliegen der organisierten Arbeiterbewegung wurden damals von der bürgerlich-konservativen Mehrheit marginalisiert. Den Arbeiterinnen und Arbeitern blieb nur noch die Strasse, um ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen. Diese Gegensätze wurden durch die Folgen des Ersten Weltkriegs noch verschärft: War es doch vor allem die Arbeiterschaft, die angesichts der Kriegswirren viele Entbehrungen einstecken musste. Zu diesen längerfristigen Ursachen gesellten sich im Herbst 1918 kurzfristige Auslöser für den Generalstreik. Wichtig war dabei vor allem die militärische Besetzung Zürichs, die die Arbeiterschaft als Provokation wahrgenommen hat.

Ein Jahr vor dem Landesstreik kam es in Russland zur Oktoberrevolution. Spielten revolutionäre Absichten, wie oft behauptet wird, auch beim Landesstreik eine Rolle?

Das ist ein Mythos. Es gibt keine Quellen, die belegen würden, dass das Oltener Aktionskomitee eine Revolution nach sowjetischem Muster wollte. Dieses Revolutionsphantasma hat sich bereits unter Zeitgenossen entwickelt. Nach dem Streik wurde es schliesslich immer wieder von ­Neuem konstruiert, um die Streikenden zu diffamieren, den unverhältnismässigen Einsatz der Armee zu rechtfertigen und um die Anliegen der schweizerischen Linken zu diskreditieren.

Und dennoch hält sich dieser Mythos bis heute. Wie gehen Sie als Historiker mit solchen Geschichtskonstruktionen um?

Wir sind ja von solchen Konstruktionen nicht gefeit. Auch wir interpretieren. Den vollkommen objektiv agierenden Historiker gibt es nicht. Anders als manche Politiker, welche die Geschichte zuweilen für sich zu instrumentalisieren versuchen, sollten die Historiker und Historikerinnen aber das so genannte Vetorecht der Quellen hochhalten. Das heisst: Wir können und dürfen nicht etwas behaupten, dem die Quellen widersprechen. Gerade bei so stark politisch aufgeladenen Themen wie dem Landesstreik müssen wir vehement für eine saubere Quellenkritik ein­stehen.

Einige Interpreten aus dem linken Lager erklären den Landesstreik wiederum zum zentralen Wendepunkt in der Schweizer Sozialgeschichte und zum Grund für die spätere Einführung der AHV oder des Frauenstimmrechts. Wird das Ereignis dabei nicht auch etwas überschätzt?

Es gibt heute eine Tendenz, den Generalstreik in seiner direkten Wirkung zu stark hochzustilisieren und die nachfolgende Geschichte zu monokausal auf dieses Ereignis zurückzuführen. Es steht ausser Frage, dass die Arbeiterbewegung im November 1918 wegweisende Forderungen auf die politische Agenda gesetzt hat. Aber die teilweise schleppende Umsetzung zeigt, dass dies eine Geschichte des Ringens und Kämpfens blieb. Es gab also offensichtlich noch ganz andere Faktoren, die für die sozialgeschichtlichen Entwicklungen in der Schweizer Gesellschaft ebenfalls entscheidend waren. Dies zu betonen mindert die symbolisch wichtige Bedeutung des Landesstreiks aber keineswegs.

Welche Rolle spielten der Kanton und die Stadt Freiburg während des Landesstreiks?

Von den eigentlichen Streikhandlungen war Freiburg wenig betroffen. Es gab zwar einzelne Streiks in der Cardinal-Brauerei und der Kartonfabrik, und auch den Streik der Eisenbahner haben die Freiburger gewiss gespürt. Im Alltagsleben ein grösseres Thema dürften in Freiburg aber die Soldaten gewesen sein, die während des Landesstreiks zum Ordnungsdienst nach Bern kommandiert wurden. Es ist nicht ohne Ironie, dass Freiburg von den Streikaktivitäten nur wenig betroffen war, dafür eine umso wichtigere Rolle im Nachgang zum eigentlichen Ereignis spielte: Die Stadt wurde – vor allem durch die Person Jean-Marie Musy – zu einer Hochburg der Konstruktion des Revolutionsmythos. Der spätere Bundesrat Musy erklärte die Freiburger Soldaten nach dem Streik zu Helden, die das Vaterland vor einer angeblichen bolschewistischen Bedrohung gerettet hätten. Freiburger Soldaten, die während dieser Zeit an der spanischen Grippe starben, wurden gar zu Märtyrern stilisiert.

Im letzten Jahr schlugen zwei Freiburger Grossräte vor, einen kantonalen Gedenktag für den Landesstreik zu organisieren. Der Staatsrat lehnte das Vorhaben entschieden ab, mit der Begründung, das Ereignis solle auf nationaler Ebene gefeiert werden. Schwingen hier noch die alten Gegensätze mit?

Das ist gut möglich. Ich finde es bedauerlich, dass eine solche Informa­tionsveranstaltung nicht zustande gekommen ist. Mich stört vor allem die insulare Sicht des Staatsrates: Nur weil der Landesstreik in anderen Teilen der Schweiz grössere Ausmasse angenommen hat, blieb die Freiburger Gesellschaft von diesen Erschütterungen ja nicht unberührt. Ich glaube, dass es in der Freiburger Öffentlichkeit auch ein Interesse gäbe, mehr darüber zu erfahren, was damals in Freiburg vor sich ging. Dies vor allem deshalb, weil das Thema für den Kanton Freiburg noch wenig erforscht ist. Der Staatsrat hat hier eine Chance vertan, mit einer Gedenkveranstaltung die lokale und regionale Erinnerung an dieses Ereignis zu schärfen und damit vielleicht auch weitere Forschungen zur Rolle Freiburgs im Landesstreik anzuregen.

Zahlen und Fakten

Der Bundesrat reagierte mit einer klaren Botschaft

Der Landesstreik gehört zu den schwersten innenpolitischen Krisen der modernen Schweizer Geschichte. Der vom Oltener Aktionskomitee unter der Führung des Nationalrats Robert Grimm ausgerufene Generalstreik dauerte zwar nur vom 12. bis 14. November 1918, legte aber in diesen Tagen fast das ganze Wirtschaftsleben und den Verkehr der Schweiz lahm. Gut eine Viertelmillion Arbeiter beteiligten sich am Streik. Unter ihren Forderungen: die 48-Stunden-Woche, die AHV, das Frauenstimmrecht und die Wahl des Nationalrats nach Proporzsystem. Im Verlaufe des Streiks spitzte sich die Lage auf den Schweizer Strassen immer mehr zu. Die Behörden reagierten mit einer deutlichen Drohgebärde auf die Demonstrationen: Nachdem der Bundesrat ein Ultimatum gestellt und rund 100 000 Soldaten mobilisiert hatte, brach das Oltener Aktionskomitee den Landesstreik ab. Für die Arbeiterschaft und die linken politischen Kräfte zeitigte der Landesstreik dennoch einen Teil­erfolg: Die vorgezogenen Parlamentswahlen 1919 wurden erstmals nach dem Proporzsystem durchgeführt und brachten den Sozialdemokraten eine Verdoppelung ihrer Sitze.

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Publikationen

Das Jubiläum sorgt für eine Vielzahl von Büchern zum Streik

Wer sich dieser Tage umfassender in die Thematik des Landesstreiks einlesen will, hat Glück: Zum Jubiläum des Generalstreiks erscheint gleich eine ganze Reihe von Publika­tionen. Die Zeitschrift «Traverse» zum Beispiel geht in einem Sammelband mit 15 Artikeln von namhaften Historikern verschiedenen Einzelaspekten des Themenkomplexes nach. Auch im Kulturverlag «Hier und Jetzt» erschien kürzlich eine fast 500-seitige Publikation zum Thema. Immer noch lesenswert ist derweil das Standardwerk von Willi Gautschi, der in den 1960er-Jahren die Forschung zum Generalstreik erst richtig lanciert hat. Das Buch erschien vor kurzem in einer Neuauflage im Chronos-Verlag.

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Florian Eitel, Malik Mazbouri, Marc Gigase (u.a.): Der Landesstreik 1918. Krisen, Konflikte, Kontroversen. Traverse: Zeitschrift für Geschichte. Band 2018/2. Zürich: Chronos, 2018. 328 S.

Roman Rossfeld, Christian Koller, Brigitte Studer (u.a.): Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918. Baden: Hier und Jetzt, 2018. 456 S.

Willi Gautschi: Der Landesstreik. 4. Auflage. Zürich: Chronos, 2018. 450 S.

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