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Wie Freiburg das Jahr 1968 erlebte

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Zusammen mit Christina Späti hat der Freiburger Professor Damir Skenderovic das Buch «Die 68er-Jahre in der Schweiz» geschrieben – ein umfangreiches Werk über ein epochales Jahr, das sich heuer zum 50. Mal jährt. Im Interview reflektiert Skenderovic, was jenes Jahr für die Universitätsstadt Freiburg bedeutete.

Inwiefern war «der Geist von 1968» damals in Freiburg überhaupt spürbar, als Stadt mit katholisch-konservativer Tradition?

Für die Universität Freiburg war nicht allein das Jahr 1968 entscheidend. Bereits 1964 gab es Forderungen seitens der Studierenden. Sie wollten eine Demokratisierung des Studiums und mehr Mitspracherecht. Die erste grosse Kundgebung fand im Mai 1965 statt, als etwa 2000 Studierende für die Errichtung einer Mensa demonstrierten. In den Jahren zuvor hatte das Rektorat den Studierenden eine Mensa und ein Studen­tenwohnheim versprochen. Viele der Studierenden kamen nicht aus gut betuchtem Elternhaus. Auch waren Veränderungen der Studierendenschaft zu beobachten, die – wie in den Rektoratsberichten nachzulesen ist – nun wie in anderen europäischen Ländern unkonventionelle Kleidung und lange Haare trugen. Man darf auch nicht vergessen, dass die Studierenden an der Universität Freiburg aus verschiedenen Kantonen und Ländern stammten und damit den vielerorts stattfindenden gesellschaftlichen Wandel gleichsam nach Freiburg mitbrachten.

Und wie war es dann im Jahr 1968?

1968 spielte Freiburg tatsächlich eine Vorreiterrolle unter den Schweizer Universitäten, wie zwei an der Universität Freiburg verfasste Arbeiten in Fach Zeitgeschichte zeigen. Nachdem der Staatsrat aufgrund eines Beschlusses des Grossrats eine Erhöhung der Vorlesungsgebühren einführen wollte, wehrten sich die Studierenden dagegen. Im Januar 1968 verabschiedeten sie an einer Versammlung in der Aula mit 800 Teilnehmenden eine entsprechende Resolution. Sie wurden vom Rektor unterstützt, der auch einen Brief an den Staatsrat schrieb. In der Antwort ging die Regierung nicht auf die Forderungen ein und wehrte sich gegen den Vorwurf, man habe das Rektorat vor vollendete Tatsachen gestellt. Schliesslich rief die Academia, die damalige Vertretung der Studierenden, zum Einschrei­beboykott auf.

 

Eine ganz andere Situation als 2017…

Zum Teil. Zum einen waren die finanziellen Argumente des Staatsrats damals recht ähnlich. Es hiess, es brauche mehr finanzielle Mittel, die Kosten seien gestiegen. Auch werde die Chancengleichheit der Studierenden durch den Ausbau des Stipen­dienwesens gesichert. Zum anderen – und das war damals in der Tat anders – war das Rektorat von der Begründung des Staatsrats nicht überzeugt und zeigte Verständnis für die Anliegen der Studierenden.

«Alain Tanner brachte den ‹Mai 68› aus Paris in die Fernsehstuben der Romandie.»

Damir Skenderovic

Historiker

 
 

Und wie ging es dann weiter?

Über die Weiterführung des Boykotts, der zunächst bis kurz vor Ablauf der Einschreibefrist dauern sollte, wurde an einer grossen Versammlung in der Aula mit über 1500 Studierenden diskutiert. Zuvor hatte auch noch der Rektor mit dem Staatsrat das Gespräch gesucht, um eine Lösung finden, ohne Erfolg. Mit knapper Mehrheit beschlossen die Studierenden an der Versammlung trotzdem, den Boykott nicht weiterzuführen. Gleichzeitig forderten die Studierenden aber in einer Resolution mehr Mitbestimmung und Einsitz in universitären Gremien. In der Öffentlichkeit hatte die Aktion für ein beträchtliches Aufsehen gesorgt, wobei die lokale Presse den Anliegen der Studierenden mit wenig Verständnis begegnete. Auch bestand unter den Studierenden keineswegs Einigkeit. Neben dem rechtskonservativen Schweizerischen Studenten­verein (StV), in dem traditionellerweise die Studierenden organisiert waren, entstanden neue Gruppierungen.

Welche?

Vor allem zwei waren wichtig: die «Troisième Force» (Dritte Gewalt) und das «Mouvement de Libération» (Befreiungsbewegung). Das kleinere, progressivere Mouvement de Libération schaute nach Paris, Rom und Berlin, es sah sich als Teil einer transnationalen Studierendenbewegung. Die Gruppe wollte einen Wandel der gesamten Gesellschaft, nicht nur der Universitäten. Sie rief zur Zusammenarbeit und Solidarität zwischen Studierenden und Arbeitenden auf. Es handelte sich um eine relativ kleine Gruppierung, die aber öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. So erregten Störaktionen und Transparente an der Veranstaltung «Tag der Offenen Universität», die am 30. November 1968 vom Rektorat organisiert wurde, grosses Aufsehen. «Aufruhr in Freiburg» titelte damals die Tribune de Lausanne. Die «Troisième Force» war gemässigter und fand mehr Unterstützung unter den Studierenden. Sie stellte vor allem Forderungen nach mehr Demokratie und Mitsprache an der Universität. Im Juni 1968 gewann sie die Wahlen zum Studierendenrat, so dass die Vertreter des StV erstmals nicht mehr die Mehrheit hatten, was damals viele als eine «kleine Revolu­tion» sahen.

Damir Skenderovic hat sich intensiv mit dem Jahr 1968 auseinandergesetzt.

Wie ist die Reaktion des Rektorats zu verstehen? Immerhin war Heinrich Stirnimann Dominikaner und Fundamentaltheologe.

Auf die Störaktionen im November zum Beispiel reagierte der kurz zuvor gewählte Rektor nicht konfrontativ und wollte danach auch keine Sanktionen gegen die Aktivisten ergreifen, wie es der Staatsrat forderte. Insgesamt ging die Universitätsleitung besonnen mit den Protesten der Studierenden um und zeigte auch ein gewisses Verständnis für ihre Reformanliegen. Das war damals allgemein an den Schweizer Universitäten zu beobachten, nicht zuletzt, da man keine Eskalation der Situation wie in Paris oder Berlin wollte. Im internationalen Vergleich bestand in der Schweiz eine grössere Dialogbereitschaft; man versuchte, die Konflikte eher in Arbeitsgruppen und Kommissionen zu lösen. Auch die Repression war vergleichsweise geringer, erst Anfang der 1970er-Jahre nahm sie zu, beispielsweise an den Universitäten Bern und Zürich.

 

Und der Zürcher Globus-­Krawall von 1968?

Das betraf nicht direkt die Universität. Dort kam es tatsächlich zu einer Aufschaukeln der Gewalt, als die Polizei bei einer Kundgebung für die Nutzung des Globus-Provisoriums äusserst brutal gegen die Protestierenden vorging.

 

Was war denn aus heutiger Sicht das Spezielle an jenem Boykott an der Uni Freiburg?

Ein Boykott ist ein nicht institutionelles, direktes Aktionsmittel. Diese Art des Protests und des Politisierens war damals an den Universitäten und unter Studierenden unüblich. Es hatte eine symbolische Bedeutung und zeigte, dass man sich auch ausserhalb traditioneller Organisationen wie Parteien und Vereinen engagieren wollte.

Ein oft gehörtes Klischee ist, dass 1968 an der Schweiz vorbeigegangen sei: tiefster Konservativismus im Emmental, während ennet des Atlantiks bei Woodstock ausgeflippt wurde. Diese Einschätzung ist also falsch?

Die Schweiz war Teil einer globalen Welt. Die jüngere Generation interessierte sich bereits in den 1950er-Jahren für die weltweit aufkommende Musik- und Popkultur. In den 1960er-Jahren hörten Jugendliche das Musikprogramm des französischen Radiosenders Europe Nr. 1 und kaum mehr Radio Beromünster. Die «Beatlemania» hatte auch die Schweiz erfasst, spätestens als die vier Pilzköpfe im Juni 1964 am Flughafen Zürich-Kloten von kreischenden Fans empfangen wurden. Zudem gab es auch in der Schweiz bereits früh pazifistische Bewegungen, die sich gegen die Atombewaffnung des Landes oder für das Recht auf Militärdienstverweigerung engagierten; oder antikoloniale Gruppen, die Anfang der 1960er-Jahre in der Westschweiz gegen den französischen Krieg in Algerien protestierten. Diese Entwicklungen färbten natürlich auch auf die Studierenden ab, die nach Freiburg kamen. Sie stammten zwar vor allem aus den katholischen Stammlanden, aber auch aus anderen Kantonen und Ländern. Freiburg war schon immer eine sehr internationale Universität.

Wie ging es dann weiter?

Dann kam «1968», auch in der Schweiz. Die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Demonstrationen an vielen Universitäten, die Sit-ins, Teach-ins und Love-ins in den grossen Städten wurden in der Schweiz wahrgenommen und beeinflussten die hiesige 1968er-Bewegung. Im Fernsehen, das in den 1960er-Jahren massive Ausbreitung erfuhr, wurden Bilder vom globalen «68» gezeigt. Alain Tanner, der damals für das Westschweizer Fernsehen arbeitete, brachte den «Mai 68» aus Paris in die Fernsehstuben der Romandie. Zudem gab es Kontakte zu Protestierenden in Paris und Berlin. So hätte zum Beispiel Rudi Dutschke nach Zürich kommen sollen, doch das Attentat auf ihn verhinderte seine Reise in die Schweiz. Im Juni 1968 kam es in Schweizer Städten zu Aktionen gegen den Vietnamkrieg, Aktivisten hissten die Vietcong-Fahne auf die Turmspitze mehrerer Kathedralen. Im Herbst 1969 demonstrieren rund 1000 Personen in Bern gegen den Besuch des amerikanischen Generals William Westmoreland bei der Schweizer Armee, der zwischen 1964 und 1968 Oberbefehlshaber der US-Truppen im Vietnam gewesen war. Insgesamt vereinte der Protest gegen den Vietnamkrieg die 68er-Bewegung, in der Schweiz wie auch international.

 

Aber waren die 68er eine Mehrheit?

Keineswegs. Die 68er-Bewegung machte zwar mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen auf sich aufmerksam. Es war aber keine Massenbewegung. An den grössten Demonstratio­nen in Zürich und Genf nahmen um die 2000 Personen teil. Als im August 1968 die Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschierten, demonstrierten in Zürich und Winter­thur 10 000 Personen, in Solothurn 3000 und selbst in Herisau 1000. Der Antikommunismus war in den 1960er-Jahren eine viel stärker mobilisierende Kraft.

 

Und wie sah es mit der Beat- und Rockmusik damals in Freiburg aus?

Auch in Freiburg hörte man Europe Nr. 1, und in der Romandie erlebte die Rockmusik, die sogenannte «musique Yé-Yé», unter den Jugendlichen einen grossen Boom. Es formierten sich zahlreiche Rockbands, die mit ihren Verstärkern und elektrischen Gitarren lauten Sound machten. Als Johnny Hallyday 1962 an einem Konzert in Biel auftrat, berichtete die Presse entsetzt von randalierenden Konzertbesuchern. 1962 und 1963 fanden in Renens unter dem Namen «Coupe Suisse de Rock» die beiden ersten Rockfestivals statt. In Freiburg war das Jahr 1968 für die Theaterszene wichtig. Das 1964 entstandene Théâtre universitaire de Fribourg (TUF) gründete 1968 das Kellertheater am Stalden in der Altstadt. Dies nachdem ein Jahr zuvor das Rektorat die Aufführung durch das TUF eines Stücks von Boris Vian in der Aula verboten hatte.

 

Die Musik spielte beim Protest gar keine so grosse Rolle?

Doch, die Rock- und Beat-Musik war sehr wichtig für «1968». Bob Dylan, Grateful Dead, The Doors und viele andere wurden zu den musikalischen Ikonen der 68er-Bewegung. Die Musik des Protestes vervielfältigte sich und beeinflusste ganz verschiedene Musikstile, psychedelische Musik, Folk, Country und Jazz. Vieles hatte bereits in den 1950er-Jahren begonnen, vor allem in der Jazzmusik und mit dem Aufkommen des Rock’n’Roll. Auch fand eine massive Expansion der Schallplattenindustrie statt, die mit ihren A&R- und Marketing-Abteilungen gezielt ein jüngeres Publikum ansprach. Die Jugend war als neue Konsumierenden-Gruppe entdeckt worden. Ähnliches geschah in der Filmindustrie, wo mit James Dean und Marlon Brando rebellische Jugendidole aufgebaut wurden. Während die Jugend erstmals in der Geschichte über Geld und Freizeit verfügte, hatte die Unterhaltungsindustrie einen neuen lukrativen Absatzmarkt gefunden. Doch dadurch entstand gleichzeitig ein grundlegender Widerspruch, der nachhaltige Wirkung hatte: Einerseits wurden Freiheit im Konsum und in der Freizeitgestaltung angepriesen und Rebellen als Vorbilder der Populärkultur präsentiert, andererseits dominierten weiterhin konservative Werte und Zwänge zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz. Diese Gegensätze waren mit ein Grund für die Proteste der 68er-Generation.

 

Und wie stand es um die sexuelle Befreiung?

Auch hier begann vieles vor 1968. Wichtig war das Aufkommen der sogenannten Antibaby­pille, die ab 1960 in den westlichen Gesellschaften verfügbar war. Mit der neuen Frauenbewegung kamen nach 1968 zusätzliche Forderungen, die sich gegen die Diskriminierung der Frauen und die traditionellen Rollenverteilungen richteten. Mit dem Slogan «Mein Bauch gehört mir» forderten sie den freien Zugang zur Pille und das Recht auf Abtreibung, auch wehrten sie sich gegen die Degradierung von Frauen zu Sexualobjekten, wie beispielsweise mit einer Aktion anlässlich der sogenannten Miss-Wahl 1969 in Zürich. Es darf nicht vergessen werden, dass damals noch sehr konservative Wertvorstellungen in der Gesellschaft dominierten. So herrschte noch das Konkubinatsverbot, das erst im Laufe der 1970er-Jahre in einigen Kantonen abgeschafft wurde, so 1972 in Zürich.

 

Und wie konnten schliesslich auf die radikale 68er- Bewegung die von Yuppies dominierten, angepassten und neoliberalen 80er-Jahre folgen?

In den 1970er-Jahren kam es zu einer starken Fragmentierung der Bewegung. Zum einen formierten sich verschiedene politischen Gruppierungen wie die Trotzkisten und die Maoisten. Zum anderen entstanden die neuen sozialen Bewegungen wie die Anti-AKW-Bewegung, die Ökologiebewegung oder die Solidaritätsbewegung. Andere wiederum stiegen aus der Gesellschaft aus, lebten in Kommunen oder suchten individuell und selbstbezogen ihr Leben mit Yoga, Meditation und fernöstlichen Religionen zu verwirklichen. Generell bekamen Individualität, Selbstfindung und Selbstverwirklichung einen immer höheren Stellenwert. Die 1970er-Jahre wurden zur «Me Decade», wie es der amerikanische Autor Tom Wolfe nannte. Nach der Machtergreifung von Margaret Thatcher und Ronald Reagan passten diese kulturellen Befindlichkeiten gut in das neoliberale Versprechen, in dem der Erfolg des «Ich» zum Massstab wurde.

1968

50 Jahre danach

Ein halbes Jahrhundert ist seit dem Schicksalsjahr 1968 vergangen. Die FN zeigen in einer Serie auf, wie Freiburg dieses Jahr erlebte, was es für Auswirkungen hatte und was heute von den «68ern» übrig geblieben ist.

jcg

 

Ausstellung

Bern erinnert sich an eine bewegte Zeit

«1968 Schweiz» lautet der Titel einer Ausstellung, die noch bis zum 17. Juni im Historischen Museum Bern gezeigt wird. Darin berichten unter anderem Zeitzeugen von ihren persönlichen Erlebnissen. Denn «1968» steht für vieles: für Proteste gegen den Vietnamkrieg, für Strassenschlachten um das Zürcher Globusprovisorium, für Anti-Franco- und Anti-Militär-Kundgebungen in Genf. Aber auch für Berns «Junkere 37» und die verhüllte Kunsthalle, für die Rolling Stones im Zürcher Hallenstadion oder die Aussteiger-Kommunen in der ländlichen Schweiz.

jcg

 

 

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