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Zum Glück gibt es sie noch!

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Das ist ein bezahlter Beitrag mit kommerziellem Charakter. Text und Bild wurden von der Firma Muster AG aus Musterwil zur Verfügung gestellt oder im Auftrag der Muster AG erstellt.

Ich ertappe mich immer öfter dabei, wie kindlich ich mich darüber freue, wenn ich Bruchstücke einer alten, vertrauten Welt erlebe, die ich schon fast für untergegangen gehalten habe. Zum Beispiel letzthin im Zug, als ein junger Mann doch tatsächlich in ein Buch vertieft war, während alle anderen Passagiere, na ja, Sie wissen schon …

Der junge Mann las «Jakob, der Lügner» von Jurek Becker. Die Geschichte spielt in einem jüdischen Ghetto Ende der Dreissigerjahre. Jakob wird mehr oder weniger ungewollt zum Überbringer hoffnungserweckender Falschnachrichten, indem er vorgibt, ein Radio versteckt zu haben und im Geheimen Nachrichten von der Front abzuhören (womit er, wenn es denn wahr gewesen wäre, sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte). Obwohl sich Jakob, der alles andere als ein geborener Lügner ist, zunehmend elender fühlt dabei, befriedigt er das Informationsbedürfnis der ihn bestürmenden Freunde mit immer neuen Unwahrheiten vom rasanten Vormarsch der russischen Armee, von der sich die Ghettobewohner natürlich ihre baldige Befreiung erhoffen. So wird Jakob, im eigenen Dilemma gefangen, immer mehr zum betrügerischen Propheten einer besseren Welt.

Wie sich leicht denken lässt, nimmt die Geschichte kein gutes Ende, für Jakob nicht und auch für alle anderen Ghettobewohner nicht. (Wenn es für Fake News eine moralische Rechtfertigung geben könnte, hier wäre sie: Jakob verstrickt sich in ein Lügengespinst, um den letzten Funken Hoffnung im Ghetto nicht ganz erlöschen zu lassen.)

Diese Geschichte hätte auch Lucien gefallen. Lucien? Ach ja, das ist der Mann, dem wir gleichentags an einem gottverlassenen Bahnhof in Frankreich zufällig begegnet sind. Ein 88-jähriger, schnauzbärtiger, äusserlich etwas verwahrloster Greis mit wachen Augen und glasklarem Verstand. Er schüttelt uns zur Begrüssung die Hand und lädt uns ein, mit ihm ein Stück Brot und Käse zu teilen. Beides kramt er aus einem Rucksack hervor, der wahrlich schon manches gesehen haben muss. Lucien gehört zu jener Art von Menschen, von denen man im ersten Moment nicht recht weiss, ob man sie für weise oder für verrückt halten soll. Vor zehn Jahren, so erzählt er uns, sei er mit seinem Esel nach Athen gewandert. Eineinhalb Jahre seien sie unterwegs gewesen. Er habe mit dieser Aktion für eine friedliche Welt demonstrieren wollen. In Athen sei sein Esel eine riesige Attraktion gewesen. Die Passanten hätten gelacht, als dieser sich vor einer Bank über die Rabatten hergemacht habe. Nur der Bankdirektor habe nach einer Weile mit hochrotem Kopf ein Fenster aufgerissen und sie unter dem Hohngelächter der amüsierten Zuschauer verjagt. Zum Glück habe sich der Esel aber schon satt gefressen gehabt, erklärt uns Lucien mit einem spitzbübischen Augenzwinkern.

Was denn sein nächstes Projekt sei, frage ich ihn. «Die Linke in Frankreich wieder an die Macht bringen. Wissen Sie, Macron und Le Pen möchten die Ausländer aus dem Land schaffen. Dabei hat doch jeder Mensch das Recht, dort zu leben, wo er möchte. Haben wir etwa die Afrikaner gefragt, ob sie von uns kolonialisiert werden wollen oder nicht?»

Bevor der Zug eintrifft, lädt uns Lucien zu einer dreitägigen Demonstration gegen den Bau neuer Atomkraftwerke Anfang August ein. «Und noch etwas», schiebt er eine letzte Bemerkung nach: «Als Schweizer werdet ihr ja wohl Jean Ziegler kennen. Er ist gleich alt wie ich, wir stehen seit Jahren in brieflichem Kontakt.»

Zwei alte, unbeugsame Männer, denke ich, zwei Träumer, die ihren Glauben an eine bessere Welt trotz der Übermacht des Faktischen niemals aufgeben werden, und wenn beide hundert Jahre alt werden. Ich spüre, wie mich der Gerechtigkeitssinn dieses alten, wie aus der Zeit gefallenen Menschen zutiefst beschämt. Ich komme mir entwaffnet vor, nackt und entwaffnet in meinem Bildungsdünkel, meinen feigen Ausreden, meiner gut gepolsterten Resignation, während Monsieur Lucien mit den einfachsten und einleuchtendsten Worten seine Finger auf die wunden Stellen dieser Welt legt, an denen er ein Leben lang seine Widerstandskraft abgearbeitet hat. Und irgendwie beginne ich, diesen kauzigen Menschen zu beneiden, so wie man einen Menschen beneiden muss, der, am Ende seines Lebens angelangt, aufrichtigen Sinnes zu sich selber sagen kann: Ich habe getan, was ich konnte, mit meinen Mitteln und Grenzen. Ich habe gekämpft, ohne ideologische Scheuklappen, einzig und allein aus Liebe zu den Menschen, aus Liebe zum Leben. Das ist keine schlechte Bilanz. (Und während ich von meinem Schreibtisch aus an diese eigenartige Begegnung zurückdenke, kommt mir ein Gedicht von Rainer Malkowski mit dem Titel «Die Alten», in den Sinn, in dem die trotzige Zeile steht: «Wenn ihr unter Altersweisheit versteht, dass man sich abfindet, sucht euch einen Jüngeren.»)

Natürlich haben der junge Romanleser im Zug und Lucien, dieser alte, ewig junge Weltverbesserer, wenig bis nichts miteinander zu tun. Ausser dass mir beide wie Überbleibsel aus einer fernen Zeit vorgekommen sind. Im Grunde habe ich mir bis zu jenem sagenhaften Tag einen verschrobenen Menschen wie Lucien höchstens als Film- oder Romanfigur, aber sicher nicht als real existierenden Zeitgenossen ausmalen können. Und irgendwie deprimiert mich die Vorstellung, dass vielleicht eines fernen Tages in Zügen überhaupt keine Romane mehr gelesen werden. Dass es beides tatsächlich immer noch gibt, hatte an diesem Tag etwas ungemein Tröstliches für mich.

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