«Die letzten zwei Monate waren sehr wahrscheinlich die schlimmste Zeit meines Lebens.» Das sagt der 71-jährige Pius Bürgisser, obwohl sich in dieser Zeit sein grosser Wunsch erfüllt hat: Er hat eine neue Niere. Zwei Jahre lang hatte er darauf gewartet. Zwei Jahre lang war er drei Mal in der Woche in der Dialyse, viereinhalb Stunden dauerte das Reinigen seines Blutes jeweils. Seine erste Niere hat er vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall verloren, bei dem seine Schwester ums Leben kam und er und seine Nichte schwer verletzt wurden. Die Pacht des Restaurants Grenette im Freiburger Burgquartier mussten er und seine Frau nach dem Unfall aufgeben. Im Herbst 2015 versagte seine verbliebene Niere – und er wartete seither auf eine Spenderorgan.
Ein letzter Gutenachtkuss
«Jetzt habe ich eine neue Niere – aber der Preis dafür ist unglaublich hoch.» Pius Bürgisser hat die Niere seines Sohnes Stephan erhalten. «Er kam mit seiner Familie aus den Herbstferien an der Sonne zurück, war ausgeruht, braun gebrannt.» Am Samstagabend habe er seine sieben- und neunjährigen Töchter ins Bett gebracht. «Dann sagte er seiner Frau, er habe ein Stechen in der Brust.» Seine Frau schickte ihn in den Notfall des Kantonsspitals; von dort wurde er ins Inselspital Bern gebracht. «Meine Frau ging die Kinder hüten, damit meine Schwiegertochter zu ihm konnte. Gegen Morgen erhielten wir den Bescheid, es gehe Stephan sehr schlecht.»
«Irgendwann am Dienstag bin ich erwacht. Mein Sohn war tot, und ich hatte eine Niere.»
Pius Bürgisser
Andacht im Spital
Stephan Bürgissers Aorta war gerissen; er war hirntot. «Er lag da, als ob er schlafe.» Und sofort stand die Frage im Raum: Wie geht es weiter? «In einem solchen Moment will man eigentlich nur Ruhe, aber den Ärzten geht es um jede Minute.» Ein spezialisiertes Team habe mit der Frau seines Sohnes, ihm und seiner Frau darüber gesprochen, ob die Organe gespendet werden sollen. «Es war schnell klar, dass ich eine Niere meines Sohnes erhalten würde.» Pius Bürgisser wurde am Montag operiert. «Irgendwann am Dienstag bin ich erwacht. Und da lag ich. Mein Sohn war tot, und ich hatte eine Niere.» Als sein Sohn beerdigt wurde, lag Pius Bürgisser noch im Spital. «Ein Pfarrer war in dieser Zeit bei mir und hat die Andacht gelesen.»
Das Organ hat ab dem ersten Moment einwandfrei gearbeitet. «Ich spürte, dass mein Körper positiv reagiert.» Die Kraft kehrte zurück, eine Kraft, die Pius Bürgisser während den letzten zwei Jahren nicht mehr gekannt hatte. Noch geht er zwei bis drei Mal in der Woche ins Spital zur Kontrolle. «Gleichzeitig erhalten die Ärztinnen und Ärzte von mir Daten für die Forschung rund um Transplantationen.» Wichtig ist zurzeit vor allem, dass er sich nicht infiziert. Und klar ist, dass er sein Leben lang Medikamente nehmen wird, damit sein Körper das fremde Organ nicht abstösst.
Spende thematisieren
Für Pius Bürgisser ist klar: «Wenn ich sterbe, spende ich alle Organe, die noch etwas taugen.» Er rät allen, mit den Angehörigen in einem ruhigen Moment zu diskutieren, ob sie eine Organspende befürworten. «Ist man im Spital wegen eines Todesfalls mit der Frage konfrontiert, ist man überfordert.» Er wünscht all den Menschen, die in der Schweiz auf ein Organ warten, dass sie im kommenden Jahr eines erhalten. «Die Hoffnung stirbt zuletzt.»
Zahlen und Fakten
Klar geregelte Organspenden
In der Schweiz werden Organspenden von Swisstransplant, der nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation, koordiniert. Die Stiftung ist im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) als nationale Zuteilungsstelle für die gesetzeskonforme Zuteilung der Organe an die Empfänger zuständig und führt die Warteliste. Die Wartezeit ist abhängig vom benötigten Organ, dem Gesundheitszustand und der medizinischen Dringlichkeit. 2016 haben in der Schweiz 503 Patientinnen und Patienten ein neues Organ erhalten; 49 weniger als im Vorjahr. Ende 2016 warteten 1480 Patientinnen und Patienten auf insgesamt 1529 Organe. Letztes Jahr verstarben 74 Patienten, die auf der Warteliste eingetragen waren.
Organspende
Eine Volksinitiative will die Widerspruchsregelung
Die «Jeune Chambre Internationale de la Riviera» hat im Oktober die Volksinitiative zur Förderung der Organspende lanciert. Die Initiative will in der Verfassung festschreiben, dass jeder Erwachsene im Todesfall ein potenzieller Organspender ist – es sei denn, er hat seinen Widerspruch zu Lebzeiten in ein offizielles Register eingetragen. Dieses Prinzip wird auch als Widerspruchslösung bezeichnet. Die Initiative soll dazu beitragen, die Anzahl potenzieller Spender zu erhöhen, damit so viele Leben wie möglich gerettet werden können. Zurzeit benötigen Organspender in der Schweiz eine Organspende-Karte; oder sie erklären ihre Zustimmung gegenüber Familienangehörigen.
60 Prozent sagen Nein
In der Praxis wendet sich das Spital im Todesfall jedoch an die Angehörigen. Laut Swisstransplant lehnten diese in mehr als 60 Prozent der Fälle eine Organspende ab. Die meisten kennen die Wünsche der verstorbenen Person nicht und fühlen sich mit der Frage überfordert.