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«Solidarität ist mehr als ein romantisierendes Umarmen»

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Hugo Fasel, am 31. Oktober hatten Sie bei der Caritas Schweiz offiziell ihren letzten Arbeitstag. Mit welchem Gefühl gehen Sie?

Ich empfinde diesen Schritt als ein Stück Normalität. Es ist das Ende einer Etappe in meinem Leben. Nach zwölf Jahren in einem Unternehmen ist es zudem generell angebracht, eine Veränderung vorzunehmen.

Auf welche Leistung sind Sie besonders stolz?

Bei solchen Fragen läuft man immer Gefahr, sich selber in den Vordergrund zu stellen. Wenn man sich mit Sachfragen auseinandersetzt, wie dies bei Caritas der Fall ist, sollten aber die Betroffenen im Vordergrund stehen. In der Schweiz geht es dabei um die Armutsfrage, welche die grösste sozialpolitische Herausforderung der Zukunft sein wird – dazu gehört auch die Kinderarmut. In den Ländern des Südens geht es nebst der Armut auch um die Hungersituation, die sich erneut verschlechtert. Dort stellt sich zudem die Frage der Klimagerechtigkeit. Die Länder des Südens werden durch die Klimaerwärmung massiv zurückgeworfen, ohne dass sie dafür eine Schuld trifft. In diesen Punkten ist die Caritas tatsächlich vorangekommen, aber nicht so weit, wie nötig.

Sie sprechen es an: Sie verlassen die Hilfsorganisation zu einem Zeitpunkt, an dem diese mehr denn je gebraucht wird.

Das ist so. Aber es ist uns gelungen, die Caritas politischer zu machen. Es gehört heute zur Identität der Caritas, dass sie nicht «nur» Hilfsprojekte auf die Beine stellt, sondern, dass sie die Ursachen der Probleme analysiert. Wenn es Armut gibt, kann man sich nicht damit begnügen, den Armutsbetroffenen etwas zu geben. Es müssen die Ursachen verständlich gemacht werden, und es muss an ihnen gearbeitet werden. Denn um die erwähnten Probleme zu lösen, braucht es Solidarität. Das erfahren wir zu Zeiten von Corona eindrucksvoll. Es ist nicht der hochgelobte Markt, der die Dinge regelt, sondern man braucht den Staat und das Engagement aller.

Sie sagen, es braucht den Staat. Als ehemaliger Politiker hatten Sie es in der Hand, die notwendigen Weichen zu stellen. Als Chef einer Hilfsorganisation müssen Sie – überspitzt gesagt – das Versagen der Politik ausbaden. Können Sie das vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen als Caritas-Direktor bestätigen?

Der Begriff von Versagen passt nicht zu demokratischer Politik. Wenn man mit den Ergebnissen der Demokratie nicht einverstanden ist, muss man mobilisieren und Korrekturen herbeiführen. Politik bedeutet Engagement und einen langen Atem. Nur so kann man Einfluss nehmen und gestalten. Mit Versagen zu argumentieren, ist bloss billiges Kommentieren. Das reicht nicht. Politik bedeutet immer hartnäckiges Durchhalten. Darum ist die Arbeit von Caritas als Vertreterin der Armutsbetroffenen gegenüber dem Parlament ein Dauerauftrag, so dass sich das Eidgenössische Parlament und die Kantone mit den Fragen der Armut tatsächlich auseinandersetzen. Das ist Teil des demokratischen Prozesses. Gleichzeitig kann gerade im Zusammenhang mit Corona nicht nur an die Politik appelliert werden, wir müssen auch selber konkrete Aktionen starten, indem wir Geld sammeln und Familien direkt unterstützen.

Also nochmals anders gefragt: Wo reicht das Engagement der Politik nicht aus?

Die Politik muss die Realität der Armut in der Schweiz und im Süden viel ernster nehmen. Dafür hat sich Caritas eingesetzt. In der Schweiz gibt es 650 000 Armutsbetroffene, davon 150 000 Kinder. Es hat lange gedauert, bis sich die Politik dieser Frage angenommen hat. Es gibt noch heute Kantone, die sich weigern, einen Armutsbericht zu erstellen. Das heisst, sie wollen nicht wissen, wie es bei ihnen aussieht. Das ist ein gravierendes Manko.

Armut in der Schweiz trotz existierendem Sozialstaat, wie ist das zu erklären?

In der Schweiz ist der klassische Sozialstaat mit den Sozialversicherungen im Wesentlichen schon gebaut. Aber gerade mit Corona kommen Elemente an die Oberfläche, die Caritas schon lange beschreibt. Eine Familie, die knapp über der Armutsgrenze lebt und plötzlich wegen der Kurzarbeit 20 Prozent weniger Einnahmen hat, fällt von einem Tag auf den anderen unter die Armutsgrenze. Deswegen will sie aber nicht schon am nächsten Tag zur Sozialhilfe gehen. Für sie braucht es einerseits also ganz gezielte Massnahmen wie Direktzahlungen, Zuschüsse während einer gewissen Zeit oder Ergänzungsleistungen für Familien. Anderseits braucht es aktive Arbeitsmarktmassnahmen der Arbeitslosenversicherung, die zeitgemäss sind, wie Weiterbildungen, um die Menschen für die Digitalisierung fit zu machen.

Was ist davon schon umgesetzt?

In der Schweiz stehen wir in der Armutsbekämpfung am Anfang. Als ich vor zehn Jahren das Thema Armut angesprochen habe, wurde das teilweise belächelt. Inzwischen haben wir jedoch erreicht, dass das Problem nicht mehr wegdiskutiert werden kann. Es ist der bescheidene, aber ganz entscheidende Fortschritt, dass Armut heute auf der politischen Agenda steht.

 

Das erinnert an den Genfer Soziologen und ehemaligen UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler, der seit Jahren schon fast gebetsmühlenartig dazu auffordert, endlich etwas gegen den Hunger in der Welt zu unternehmen. Sie hatten als Chef einer Hilfsorganisation eine ähnliche Rolle, wie fühlten Sie sich dabei?

Es ist keine Rolle, die viele wahrnehmen möchten. Denn dafür braucht es viel Energie und den Willen, Armut als Thema in die politischen Mühlen der Schweiz einzuspeisen. Dies fällt allerdings leichter, wenn man regelmässig mit armutsbetroffenen Menschen zu tun hat. Das gibt Sicherheit, und man weiss, worüber man redet. Es motiviert und schafft die nötige Überzeugungskraft. Gleiches gilt in Bezug auf die Probleme des Südens. Erst kürzlich wies UNO-Generalsekretär António Guterres darauf hin, dass seit 2018 der Hunger in der Welt wieder zunimmt. Dabei ist es nicht so, dass es zu wenig Nahrung geben würde, sondern das Problem ist eine Verteilungs- und eine Machtfrage. Die Kleinbauern im Süden werden durch Billigimporte verdrängt, was einer der Hungerfaktoren ist. Über das wird nicht gerne gesprochen. Denn es ist ein Plädoyer gegen die Mächtigen, gegen Konzerne, welche die kleinen Strukturen zerstören.

Ihnen ist die Rolle des ständigen Mahners also nicht schwergefallen?

Nein. Wenn ich in Mali, im Tschad bin, sehe ich den Hunger eins zu eins. Es wäre befremdend, wenn ich nicht bereit wäre, dieses Thema mit meinem ganzen Engagement in die Politik einzubringen und entsprechende Forderungen zu stellen; das ist das Strickmuster von Hugo Fasel. Es geht um Werte, um die man sich ein Leben lang kümmern sollte, um Werte, die unersetzbar, das heisst nicht verhandelbar, sind, und für die man sich irgendwann entscheiden muss: Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Gesellschaft ohne Solidarität ist eine traurige, kalte Gesellschaft. Das ist mein Anliegen über die Pensionierung hinaus.

Sie haben auch immer wieder gefordert, dass die Schweiz für die internationale Entwicklungshilfe 1 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts ausgeben soll, und nicht bloss 0,4 Prozent.

Ja. Es gibt Länder, insbesondere im Norden, die 1 Prozent einsetzen. Diese Länder haben erkannt, dass Entwicklungszusammenarbeit letztlich eine Zusammenarbeitsform ist. Es ist die Erkenntnis, dass das, was man hineinsteckt, mehrfach wieder zurückfliesst. Auf diese Logiken muss man verweisen. So verstehe ich meine Rolle, nämlich auf Chancen hinzuweisen, und nicht nur auf Probleme. Wenn im Süden durch die Klimaerwärmung ganze Regionen wegen zusätzlicher Dürreperioden ihren ganzen Reichtum verlieren, dann ist das nicht ihre Schuld. Es ist der Norden, der für diese Entwicklung verantwortlich ist. Also müsste er aufgrund der normalen Haftpflichtlogik für all diese Schäden aufkommen, was er nicht tut. Auch die Klimajugend führt uns vor Augen, was Klimagerechtigkeit beinhaltet: Die Ressourcen, die wir heute ausbeuten, stehen ihnen morgen nicht mehr zur Verfügung.

Gerade mit der zweite Corona-Welle, die im Gang ist, könnte aber die Sorge aufkommen, dass es mit der von Ihnen geforderten Solidarität nicht weit her ist. Es machen sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar.

Solidarität ist mehr als ein romantisierendes Umarmen. Zuerst ist es eine Grundhaltung, das Gefühl nämlich, dass auch dem anderen etwas bleiben soll. Die Umsetzung von Solidarität ist aber vielschichtiger. Die Schweiz hat Solidarität in verschiedenen Formen umgesetzt, und diese gehört zu den Grundpfeilern der Stabilität des Landes. So ist beispielsweise die AHV eine Solidaritätseinrichtung. Alle bezahlen abhängig von ihrem Lohn einen gewissen Prozentsatz in die AHV ein, am Tag der Pensionierung erhalten indes alle, unabhängig von ihren Einzahlungen, eine Mindestrente. Die ganze Landwirtschaftspolitik ist zudem Ausdruck von Solidarität. Wir setzen heute für die Landwirtschaft drei Milliarden Franken jährlich ein – gleich viel Geld wie für die Entwicklungszusammenarbeit –, weil wir sagen, dass alle in der Schweiz ein existenzsicherndes Einkommen haben sollen, und weil die Landwirtschaft auch einen Beitrag zur Umwelt leisten soll. Ein weiteres Beispiel ist der Finanzausgleich: Es ist klar, dass nicht jeder Kanton die gleiche Ausgangssituation hat. Das heisst, man kann die Solidarität nicht jeden Tag neu erfinden, sonst wird sie zu einem Bettelinstrument. Man muss Solidarität umsetzen in konkrete Strukturen. Darum haben wir wegen Corona Direktzahlungen des Bundes verlangt, denn wir können ja nicht jeden Tag Sammlungen durchführen. Mit den 30 Milliarden, welche die Schweiz nun den von Corona am meisten Betroffenen gibt, hat der Staat Solidarität geschaffen. Das zeigt, dass all jene, die immer gesagt haben, alle Probleme werden durch den Markt geregelt, falsch lagen. Der Markt hat während Corona nun wirklich nichts zu bieten. Die grössten Marktschreier standen über Nacht vor den Türen des Staates und forderten, er solle seine Steuergelder zur Unterstützung etwa der Fluggesellschaft Swiss einsetzen. Gesellschaften werden nicht durch den Markt, sondern durch Solidarität zusammengehalten.

Der Staat kann aber nicht immer einspringen, was müsste sich denn bei der Wirtschaft ändern?

Es geht um die Diskussion von Verantwortlichkeiten. Nehmen wir die Klimafrage. Diese wird immer defensiv diskutiert. All jenen aber, die nur in ökonomischen Kategorien denken, liefert die Klimafrage wunderbare Antworten. Es handelt sich um ein gigantisches Investitionsprojekt. Der Umbau unseres wirtschaftlichen Funktionierens weg von nicht erneuerbaren Ressourcen ist machbar. Eine Solarzelle auf dem Dach ist kein Verzicht von Lebensqualität, sondern schlicht eine Investition in eine andere Form von Energieversorgung.

Der Umbau kann ohne Umverteilung der Güter aber nicht funktionieren. Im Moment nimmt der Graben zwischen Arm und Reich auf der Welt jedoch weiter zu.

Wenn man die ganze Welt an einem Tag umkrempeln will, dann hat man schon verloren. Wer etwas verändern will, braucht Jahrzehnte des Engagements. Wer das verdrängt, verliert sich in der Naivität der eigenen Hoffnung. Es braucht Etappen und Etagen. Eine davon ist, darauf hinzuweisen, dass die ganze marktwirtschaftliche Ordnung zu einer Konzentration von Einkommen und Vermögen führt, die zum Problem wird. In den letzen Jahrzehnten wurden Boni bezahlt, die nichts mit Leistung zu tun hatten, sondern mit einer Haltung, die auf Bereicherung angelegt ist. Man kann das natürlich nicht verbieten, aber man kann eine Gegenbewegung in Gang setzen. Das macht die Stärke der Klimajugend aus. Sie verursacht einen neuen Stream – heute sagt man nicht mehr Bewegung – der zum Mainstream wird. Diese Kraft kann man nicht mehr wegdiskutieren.

Ja?

Nein, die Klimajugend ist längst mehr als Jugend, sie ist die grosse Hoffnung. Hoffnung kann man übrigens messen: Je grösser der Widerstand gegen die Klimajugend ist, umso mehr hat sie gewonnen, weil sie recht hat.

Nun gehen Sie in Rente. Haben Sie schon Pläne für Ihre Zukunft?

Meine Energie und mein Wesen, mich für etwas einzusetzen, werden bleiben. In welcher Form sie künftig zum Tragen kommen, wird sich zeigen. Ich habe bewusst alle bereits eingegangenen Anfragen für eine neue Tätigkeit zurückgestellt. Ich möchte zuerst einmal Denkzeit, Langeweile, Leere. Ich will Stillstand. Nur so entsteht Neues. Sonst verläuft das Leben linear, und das möchte ich nicht.

Bevor Sie sich nun aber in den Zustand des Nichtstuns versetzen können, werden Sie bis Weihnachten noch ihren Nachfolger Peter Marbet einführen. In welchem Zustand hinterlassen Sie ihm die Hilfsorganisation?

Caritas ist heute hervorragend aufgestellt und finanziell kerngesund, das sage ich ganz selbstbewusst. Die ganze Hilfswerkszsene ist in einem enormen Umbruch. Mehrere Hilfswerke werden verschwinden, weil sie mit der Modernisierung nicht Schritt gehalten haben, weil sie zu passiv und zu langatmig sind. Caritas erhält heute mehr Gelder aus den EU-Staaten als aus der Schweiz. Das heisst, wir müssen europaweit an Ausschreibungen teilnehmen, an Ausschreibungen, die von den Aussendepartementen jedes einzelnen EU-Landes getätigt werden. Die Internationalität muss sich darum auch in den organisatorischen Strukturen einer Hilfsorganisation niederschlagen. Und das ist uns gelungen. Heute arbeiten viel mehr Personen bei Caritas Schweiz als damals, als ich angefangen habe. Unsere Arbeit ist gefragt. Wir hatten einst 250 Mitarbeitende, heute sind wir 430. Ich sage das, um zu dokumentieren, dass wir mit unserer Arbeit offensichtlich nah bei den Menschen sind.

Bilanz

Zur Person

Dem sozialen Anliegen verschrieben

Hugo Fasel wurde am 4. Oktober 1955 in Alterswil geboren. Er studierte Wirtschaft an der Universität Freiburg. 1986 wurde er Zentralsekretär des Christlichnationalen Gewerkschaftsbunds der Schweiz. Von 1991 bis 2008 sass Fasel für die CSP im Nationalrat und war dort Mitglied der Geschäftsprüfungskommission sowie der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Da er der einzige CSP-Nationalrat war, schloss er sich 1995 der Grünen Fraktion an. Nebst seiner Tätigkeit als Nationalrat war Hugo Fasel Präsident der Gewerkschaft Travail.Suisse und Dozent an verschiedenen Fachhochschulen. Von Oktober 2008 bis vorgestern war er zwölf Jahre lang Direktor der Caritas Schweiz. Sein Nachfolger ist Peter Marbet. rsa

 

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