Die in Deutschland geborene türkischstämmige Hazal ist eine Jugendliche mit Migrationshintergrund, und zwar eine, die damit nicht klarkommt.
Demografische Besonderheit
Besonders zahlreich ist die türkische Gemeinde in Berlin, im Ortsteil Berlin-Kreuzberg. Fast ein Drittel der rund 160 000 Einwohner sind gemäss Wikipedia Migranten, viele Türkeistämmige und deren Nachkommen. Auch für diese demografische Besonderheit ist Kreuzberg weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Ab 1987 geriet Kreuzberg regelmässig durch teils schwere Strassenschlachten zum 1. Mai in die Schlagzeilen. Ausgangspunkt der Krawalle war meist der Zusammenstoss von Teilnehmern der Mai-Kundgebungen und der Polizei. Heute hat sich die Gewalt mehr und mehr ritualisiert und ist von grosser Medienpräsenz begleitet. Die ursprünglich politische Motivation ist in den Hintergrund getreten, es betätigen sich nun überwiegend Jugendliche auf der Suche nach einem Abenteuer, wie es im Wikipedia-Eintrag heisst.
Von der Familie entfremdet
In diesem Biotop aus Alternativbewegungen, Hausbesetzerszene, Hobbyrevolutionären und neuerdings auch Gentrifizierungsproblemen wächst die Hauptfigur Hazal auf. Den Hauptschulabschluss schafft sie gerade noch, ihren Eltern und ihrer Familie entfremdet sie sich aber immer mehr, ihre Freundinnen und Freunde sind ihr auch nicht wirklich eine grosse Stütze. Diebstahl und Drogenkonsum sind an der Tagesordnung. Eine richtige und gut bezahlte Arbeit findet sie auch nicht, ihre schlechte Integration in die Mehrheitsgesellschaft hilft ihr auch nicht weiter.
Fazit: Hazal ist eine «Loserin». Für ihre Zukunft sieht sie nur noch schwarz, Leere und Hoffnungslosigkeit bestimmen ihr Leben.
Wie nur soll sie diesem Teufelskreis entrinnen?
Unkontrollierte Aggression
In einer beeindruckenden Milieustudie zeichnet die Autorin den (Irr)Weg der Protagonistin Hazal auf. Von der Umgebung und den Umständen total enttäuscht, drückt sie ihren Frust durch unkontrollierte Aggression aus. Zu Beginn sind es eher harmlosere Geschichten: Diebstähle, Schwarzfahren, Prügeleien, illegaler Drogenkonsum, Schuleschwänzen und dergleichen mehr.
Doch die Spirale der Unvernunft und der Aggression dreht sich immer weiter, bis Hazal eine rote Linie überschreitet und ein schweres Verbrechen begeht. Die Polizei sucht sie fieberhaft. Hazal muss untertauchen. Ihr bleibt nichts anderes, als Berlin Hals über Kopf zu verlassen. Sie flieht nach Istanbul, wo sie vorher noch nie war. Sie kennt diese molochartige Riesenmetropole nur vom türkischen Fernsehen. Kein Wunder, dass sie sich auch in der Türkei fremd fühlt, ohne Arbeit, ohne Perspektiven.
Hin und her gerissen
Fatma Aydemir scheut sich nicht, auch auf die Irrungen und Wirrungen, die zurzeit in der Türkei herrschen, einzugehen. Sie zieht dabei jedoch nicht Stellung zur politischen Situation in der Türkei. Sie bleibt konsequent auf den Pfaden des Sozialdramas und vermeidet es tunlichst, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Beim Lesen dieses doch recht krassen Romans, eines Produkts der jungen deutschen Literatur, ist man hin und her gerissen zwischen Ablehnung und Verständnis für die Protagonistin. Sprachlich ist der Roman schon etwas gewöhnungsbedürftig, da sehr direkt, unverblümt und oft gar vulgär. Passend zu den Kreisen, in denen sich Hazal bewegt. Eine spannende, dramatische und hochaktuelle Erzählung.
Fatma Aydemir: «Ellbogen», Roman, München: Hanser, 2017, 270 S.
Aldo Fasel ist Leiter der Volksbibliothek Plaffeien-Oberschrot-Zumholz.
Zur Person
Junge deutsche Literatur
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. Seit 2012 lebt sie in Berlin und ist Redakteurin bei der taz. Als freie Autorin schreibt sie daneben für zahlreiche Zeitschriften.